Hannes Androsch - Der Feind des Mittelmaßes

Die obsessive Auseinandersetzung mit dem, was die Welt im Innersten zusammen hält, beflügelt: Hannes Androsch ist mit 80 in der Form seines Lebens. trend-Autor Bernhard Ecker, 45, gibt seit fünf Jahren mit dem Jubilar historische Bestseller heraus. Ein sehr persönlicher Text über durchaus fordernde Begegnungen mit einer Ausnahmeerscheinung.

Hannes Androsch ist Industrieller und ehemaliger SPÖ-Finanzminister sowie Vizekanzler der Ära Kreisky.

Hannes Androsch ist Industrieller und ehemaliger SPÖ-Finanzminister sowie Vizekanzler der Ära Kreisky.

Vor einer Woche kam wieder ein Anruf von ihm: Er hat nun einen britischen Verlag für das "14er"-Buch an der Angel. Gemeint ist unser im Brandstätter Verlag erschienene Band "1814 -1914 - 2014", den wir anlässlich des Gedenkjahrs 2014 gemeinsam herausgegeben haben. Ein paar Dinge, fügte er hinzu, "müssen wir aber neu aufsetzen".

Diese Anrufe von Hannes Androsch kommen in unberechenbaren Rhythmen, und sie sind unberechenbaren Inhalts. "Schauen Sie sich heute Seite sechs der 'FAZ' an, es geht um die amerikanisch-chinesischen Beziehungen." "Ich schicke Ihnen ein Buch vorbei, da sind Schlüsselüberlegungen zur Roboterisierung und Digitalisierung drin." "Wir sollten uns Gedanken über das Sykes-Picot- Abkommen von 1916 machen, es erklärt so vieles, was im Nahen Osten derzeit geschieht."

Von seinen 80 Lebensjahren habe ich den früheren Finanzminister, Vizekanzler und Generaldirektor der Creditanstalt die letzten fünf Jahre aus Nahdistanz miterlebt. Nach seinem ersten Leben als Politiker und dem zweiten als Banker wird diese Phase als erfolgreicher Industrieller und Citoyen, der sich mit Büchern, Zeitungskommentaren oder auch in Rollen wie jener des Bildungsvolksbegehren-Initiators permanent in die öffentliche Sphäre einmischt, vielleicht seine beste gewesen sein.


Messerscharf, streitbar, höchst aktiv - mit 80 ist Androsch in Höchstform.

Noch immer polarisiert er, auch weil er auf sein Umfeld noch weniger Rücksicht nimmt als früher. Obwohl er als Aufsichtsratschef des Austrian Institutes of Technology (AIT) und als Vorsitzender des Rats für Forschungs- und Technologieentwicklung von der Gunst der Politik abhängig ist, kritisiert er offen den Budgetentwurf des neuen Finanzministers - keiner kann das mit dieser Kompetenz und Wortgewalt. Jenen, die fordern, man solle die Regierung von Sebastian Kurz doch an ihren Taten messen, schleudert er mit Seelenruhe entgegen, er könne sie bisher nur an ihren Untaten messen. Mit seiner eigenen Partei geht er genauso hart ins Gericht: Befragt zu den jüngsten Äußerungen von SPÖ-Parteichef Christian Kern in Richtung Koalition ("Zwei B'soffene, die sich gegenseitig abstützen"), meinte er bei der Präsentation seiner Jubiläumsschrift:"Ich kommentiere ja auch nicht das Wetter."

Messerscharf, streitbar, höchst aktiv - mit 80 ist Androsch in Höchstform. Das hängt auch damit zusammen, dass er das Prinzip des lebenslangen Lernens fast schon bis zum Exzess kultiviert hat.



23. November 2013, Schanghai

Hyatt on the Bund, Lobby. Der renommierte Direktor des Modern Management Centers Schanghai, Yan Xiaobao, ist extra für eineinhalb Stunden in das Nobelhotel gekommen, um eine Privatvorlesung für einen Österreicher zu halten. Hannes Androsch und der Wirtschaftsprofessor kennen einander schon aus mehreren Begegnungen, an diesem Vormittag geht es um ein kompaktes China-Update: die vier unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Kommunistischen Partei, sich abzeichnende Änderungen im Politbüro, die chinesisch-japanischen Beziehungen. Androsch fragt nach, notiert sich das eine oder andere und verabschiedet Yan am Ende herzlich.

Zu wissen, wohin sich das 1,3-Milliarden-Einwohner-Land entwickelt, in dem er schon zwei riesige Fabriken bauen hat lassen, ist für den Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzenden von AT&S, zum Zeitpunkt der Reise 75 Jahre alt, essenziell. Er ist kontinuierlich auf Achse, um sich persönlich ein Bild zu machen. In Chongqing, jenem 30-Millionen-Einwohner-Stadtungetüm im Landesinneren, will er in den nächsten Jahren bis zu eine Milliarde Euro investieren. Weil die winzigen Elektronikbauteile aus den chinesischen Fabriken teils in anderen Ländern verbaut werden, muss man als sorgfältiger Kaufmann über bilaterale Beziehungen ebenso Bescheid wissen wie über künftige Besteuerungsszenarien.


Androsch, ein verhinderte Weltpolitiker, der China durch die Brille von Henry Kissinger und Helmut Schmidt zu betrachten gelernt hat.

Androschs zehntägige Asientour, die ihn von Seoul über Beijing nach Chongqing und Schanghai geführt hat, ist jedoch mehr als die Reise eines global tätigen Industriellen auf Fact-Finding-Mission: Es ist die Reise eines verhinderten Weltpolitikers, der China durch die Brille von Henry Kissinger und Helmut Schmidt zu betrachten gelernt hat. Schon in Parteisitzungen der SPÖ Floridsdorf, heißt es, hat er früher demonstrativ den "Economist" gelesen.

Und wenn es geht, holt er sich die Informationen eben direkt ab. In Beijing war 2013 ein Termin bei der Weltbank Pflicht, wo - wieder eine Privatvorlesung - darüber doziert wurde, wie sich die Ein-Kind-Politik wirklich auf die chinesische Demografie auswirken wird.

Was für ein schöner Gedanke: Beschäftigen sich alle reisenden Politiker und Wirtschaftsmenschen, zum Beispiel die Mitglieder der jüngsten "größten Delegation aller Zeiten" nach China, so gründlich mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft ihrer Zieldestination? Bei genauerem Überlegen will man die Antwort vielleicht doch nicht so genau wissen.

Was sagen Sie zum heutigen Martin-Wolf-Kommentar?", fragt er mich beim Frühstück im Hyatt, es ist spät geworden an der Hotelbar, vielleicht vier Stunden Schlaf - doch das ist natürlich keine Entschuldigung, Martin Wolf nicht gelesen zu haben. Androsch selbst hat das jüngste Meinungsstück des "Financial Times"-Chefkommentators, eines leidenschaftlichen Verfechters einer liberal-demokratischen Welt-und Wirtschaftsordnung, natürlich bereits verzehrt. Und wie bei den Büchern zu Weltpolitik, Wirtschaft oder Geschichte, die er impulsiv an auserwählte Adressaten verschickt, will er nach dem Verzehr gleich einmal alles durchdiskutieren.


Wenn man nicht gerade sein Feind ist, ist Androsch für Gegenargumente immer hellhörig und aufgeschlossen.

Denn anders als man meinen möchte, schätzt der ehemalige Wunderknabe der Nation den Widerspruch. Männer, die mit seiner Machtfülle ausgestattet sind - erst politisch, dann wirtschaftlich, immer mit Meinungsmacht verbunden -, tendieren im Allgemeinen dazu, sich mit Jasagern zu umgeben. Doch wenn man nicht gerade sein Feind ist, ist Androsch für Gegenargumente immer hellhörig und aufgeschlossen.

Vielleicht haben sich einige Ressentiments auch ganz einfach abgemildert. Seine fast reflexhafte Abneigung gegen alles "Grüne" - jene Stimmen, die schon frühzeitig die ökologischen Kosten des Fortschritts thematisiert haben, von Zwentendorf über Hainburg bis zu den politischen Vertretern der Grünen im Parlament -, ist im Lauf der Jahre schwächer geworden. Zwentendorf nicht in Betrieb zu nehmen, jenes vom Volk in einer Abstimmung 1978 knapp abgelehnte Atomkraftwerk, hatte der damalige Vizekanzler die längste Zeit für ökonomischen und energiepolitischen Wahnsinn gehalten. In seinen letzten Büchern war jedoch mehr und mehr von Umweltzerstörung, Plastikmüll in den Weltmeeren und Klimawandel die Rede. Und daran bin nicht ich schuld, auch wenn sich durch diese Bücher unsere Wege erst gekreuzt haben.



Der Sonnenkanzler und der Kronprinz

Ich bin in einem kleinen oberösterreichischen Dorf aufgewachsen, meine kleinbäuerliche Familie war explizit nicht sozialdemokratisch. Anfang der 80er-Jahre, als ich politische Inhalte erstmals bewusst wahrzunehmen begann, war Bruno Kreisky zwar noch immer Feind, aber man hatte Respekt vor ihm. Für den Umstand, dass Kinder aus untersten Schichten nun auch die höchsten Bildungswege leichter gehen konnten, war man dem "Sonnenkanzler" insgeheim sogar ein Stück dankbar.

Kein positives Wort wurde in diesem Landstrich hingegen, anders als in den urbanen bürgerlichen Zirkeln, über seinen langjährigen Kronprinzen verloren. Androsch, mit 32 Jahren Finanzminister geworden, war so offensichtlich himmelstürmend, Ausnahmetalent und weltläufig, dass er automatisch verdächtig war. Sein Absturz - er wurde 1988 und 1991 gerichtlich verurteilt, einmal wegen falscher Zeugenaussage im Zuge des AKH-Untersuchungsausschusses, das zweite Mal wegen Steuerhinterziehung - gab all denen Recht, die es schon immer gewusst hatten. Dass es ihm danach aber gelungen war, mit dem Kauf des staatlichen Leiterplattenwerks von AT&S den Grundstein für ein drittes, erfolgreiches Leben als Industrieller zu legen, passte nicht in die weithin herrschende katholische Moralvorstellung, dass am Boden bleiben muss, wer einmal gestrauchelt ist.

Natürlich sagte ich sofort Ja, als mich der Wiener Brandstätter Verlag, für den ich ab und zu als Ghostwriter tätig war, Anfang 2013 fragte, ob ich willens und fähig sei, binnen vier Monaten eine ältere Publikation Androschs zu überarbeiten beziehungsweise in Gesprächen mit ihm selbst aufzufrischen. Herausgekommen ist ein praktisch völlig neues Buch, "Das Ende der Bequemlichkeit". Die chinesische Übersetzung fädelte später ein gewisser Professor Yan Xiaobao ein.

Die Zusammenarbeit war von Beginn weg freundlich und effizient, forderte aber ein Höchstmaß an Flexibilität. Nicht nur das Androsch-International-Consulting-Büro am Wiener Opernring war Knotenpunkt, sondern bei Bedarf auch Androschs Viva-Mayr-Hotel im Kärntner Maria Wörth, wo er regelmäßig kurt, oder sein Wohnhaus in Neustift am Walde. Nach geglückter Präsentation des Bandes holte er ein Projekt aus der Schublade, das dort zu verstauben drohte. Seit Längerem schwebte ihm ein Buch zum Jubiläumsjahr 2014 vor, mit historischen Beiträgen aus den verschiedensten Perspektiven, flankiert und verknüpft durch seine eigene Einschätzung zu den "großen Linien" der Geschichte. Das stachelte meinen Historiker-Ehrgeiz an, der im überwiegend gegenwarts- und zukunftsfixierten Wirtschaftsjournalismus meist im Standby-Modus ist.

Hannes Androsch und Bernhard Ecker

Hannes Androsch mit trend-Autor Bernhard Ecker bei der Präsentation des Buchs "1848 - 1918 - 2018 - 8 Wendepunkte der Weltgeschichte" im Dezember 2017

Ein Konzept dafür legte ich ihm in Schanghai auf den Tisch, in jenen Novembertagen 2013. Um die Sache zu beschleunigen, pushte er mich zum Co-Herausgeber, gegen den Willen des Verlags, dem ein No-Name auf dem Cover wenig verkaufsfördernd erschien. Im Prinzip war es Wahnsinn, erst am Ende eines Gedenkjahres, wenn das Verkaufsfenster sich praktisch schon geschlossen hat, mit einem derart anlassfixierten Buch auf den Markt zu kommen. Dennoch wurde "1814 - 1914 - 2014" ein außerordentlicher Erfolg. Den Folgeband, "1848 -1918 -2018", mit Ex-Bundespräsident Heinz Fischer als Co-Herausgeber, haben wir dann zeitgerecht im Dezember 2017 präsentiert.


Hannes Androsch, ein Vorkämpfer der Frauenemanzipation.

An den 75 Jahren von Androschs Leben, die ich nicht aus der Nahdistanz kenne, erscheinen mir drei Dinge besonders bemerkenswert. Sie gehen in der Fixiertheit auf den Konflikt zwischen Kreisky und Androsch oft unter.

1973, im Jahr, nachdem ich geboren wurde, führte der junge Finanzminister flächendeckend die Individualbesteuerung ein - vermutlich seine Glanztat schlechthin. Mit diesem Schritt, der die Haushaltsbesteuerung ablöste, wurden Frauen zur Berufstätigkeit steuerlich ermutigt und waren weniger von ihren Männern abhängig. Steuerpolitisch sei Androsch ein "Vorkämpfer für die Frauenemanzipation" gewesen, erklärte später einmal Bundespräsident Alexander Van der Bellen, ein Ökonomieprofessor. Zweitens: Eine wissenschaftlich-kritische Analyse der Steueraffäre fehlt, obwohl sie den Blick auf die Gesamtbilanz dominiert. Es gibt noch heute gestandene Industrielle, die Androsch genau wegen dieser Causa nicht die Hand reichen. Er selbst hält jene über 16 Jahre hinweg in Justizverfahren untersuchte Angelegenheit, die seine glänzenden ersten beiden Karrieren beendet hat, noch immer überwiegend für das Produkt politischer Verfolgung, nachzulesen in den von Peter Pelinka aufgezeichneten Lebenserinnerungen "Niemals aufgeben". So oder so, es bleibt die bitterste Episode eines durch und durch spektakulären Lebens.

Und drittens: Dass jemand, der immer ein Feind des Mittelmaßes war, in Österreich dennoch so hoch gestiegen ist, ist schon erstaunlich genug. Dass er 30 Jahre nach seinem Fall nun als Ausnahmepersönlichkeit gefeiert wird - in der jüngsten Umfrage der Meinungsforscher von Spectra wird Androsch als Wirtschaftskapitän mit den zweitbesten Imagewerten nach Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz gerankt -, ist das eigentliche Wunder seiner Karriere. Die obsessive intellektuelle Auseinandersetzung mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, scheint also zu beflügeln. Insofern bin ich schon neugierig, worum es im nächsten Anruf geht.

Lesestoff

Bücher von und mit Hannes Androsch

Folgende Bücher sind im Christian Brandstätter Verlag erschienen:


Der Essay ist der trend-Ausgabe 16/2018 vom 20. April 2018 entnommen.

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