Hannes Androsch: Europa – Vielfalt im Streben nach Einheit [ESSAY]

Der Ukraine-Krieg hat bisher nicht die von Putin erhoffte Spaltung der Europäer bewirkt. Diskussionen, wie die EU zukunftsentscheidende Herausforderungen bewältigen kann, finden freilich nicht statt.

Hannes Androsch

Hannes Androsch

Europa! Aber wo liegt es? Glaubt man der antiken griechischen Mythologie, so kommt Europa aus dem Orient, da Zeus die gleichnamige phönizische Königstochter als Stier getarnt am Strand des heutigen Libanon überwältigt und nach Kreta entführt hat.

Eine andere, plausiblere Annahme besagt, dass der Begriff Europa auf das semitische "eref" zurückgeht, was "Abend" oder "Westen" bedeutet und somit darauf hinweist, dass "Europa" als Fremdbezeichnung diente und sein Ursprung folglich nur als Resultat einer Auseinandersetzung mit "dem Fremden", "dem Anderen" gedacht werden kann.

Hierzu passt, dass, obwohl Europa keine natürliche Grenze zu Asien hat, der große antike Geschichtsschreiber Herodot erstmals zwischen dem Morgen- und dem Abendland unterschied und damit Europa als eigenständigen Kontinent mit spezifischen kulturellen und politischen Ausprägungen definierte.

Dennoch blieben sowohl die Auseinandersetzung mit dem als auch die Aneignung des Orients Grundkonstanten der europäischen Identität - sei es durch Übernahme zahlreicher Innovationen aus dem Osten wie etwa der neolithischen Revolution, der monotheistischen Religionen, der Schrift oder der Metallurgie, oder in den Konflikten zwischen Griechen und Persern, Kreuzrittern und Sarazenen, den Schlachten von Salamis (480 v. Chr.) und Liegnitz (1241) oder den Türkenbelagerungen Wiens (1529, 1683).

Man könnte meinen, dass Europa überhaupt nur im Kampf gegen das Fremde zu sich selbst gefunden hat - und dies, obwohl oder gerade weil das Osmanische Reich und die maurisch-islamischen Königreiche in Spanien dem christlichen Europa bis ins späte Mittelalter kulturell, technisch und ökonomisch weit überlegen waren und sich auch das europäische Denken der Renaissance nicht zuletzt der Vermittlungstätigkeit islamischer Gelehrter verdankte.


Wie konnte Europa zu einer Weltmacht werden?


Europa ist klein, doch mit seinen gegliederten Küsten, dem dichten Netz an Flüssen, den markanten Gebirgszügen und unterschiedlichen Landschaften in seiner Vielfalt einzigartig. Als Folge haben seine Bewohner schon früh unzählige Sprachen und Kulturen entwickelt und damit den Kontinent bereichert, aber auch dazu beigetragen, dass er Schauplatz unzähliger blutiger Konflikte wurde.

Selbst die Christianisierung Europas führte zu keiner Befriedung, sondern zu neuen Spaltungen - Katholiken gegen Orthodoxe, Reformierte gegen Katholiken und alle gegen die Juden. So hat Europa nie zu wirklicher Einheit gefunden, obwohl seine Vereinigung mehrfach versucht wurde - vom Römischen Reich ebenso wie von Karl dem Großen, dem Habsburger Karl V., Napoleon Bonaparte und zuletzt von Adolf Hitler.

"Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Kapitol in Rom", formulierte einst Theodor Heuss. Seinen Aufstieg erlebte es allerdings erst, als mit dem Buchdruck, der Renaissance und der Aufklärung eine regelrechte "Explosion des Wissens" (Peter Burke) einsetzte, die in eine wissenschaftliche und später in die Industrielle Revolution mündete. So wurde ein Wirtschaftswachstum entfacht, das bis ins 20. Jahrhundert die europäische Vorherrschaft in der Welt ermöglichte.

Diese Entwicklung war umso erstaunlicher, als Europa aufgrund seiner Lage am Rande des eurasischen Kontinents lange Zeit eine nur marginale Rolle gespielt hatte und mit der chinesischen Ming-Dynastie, dem indischen Mogulreich, dem Safawidenreich in Persien und dem Osmanischen Reich bereits mehrere politische und wirtschaftliche Zentren existierten. Noch 1775 war Asien für rund 80 Prozent der Weltwirtschaft verantwortlich. Doch seit der "Entdeckung" Amerikas 1492 trat zunehmend auch Europa - genauer: Westeuropa - auf die Weltbühne und begann, sich auf den Weltmeeren auszubreiten und riesige Kolonialreiche zu errichten.

Allerdings war dies nicht das Resultat einer Konzentration der europäischen Kräfte, sondern die Folge innereuropäischer Konkurrenz - mit dem Ergebnis, dass sich Spanien, Portugal, die Niederlande, Frankreich und England zu den Herren der Weltmeere aufschwingen konnten, während sich gleichzeitig das kontinentale Europa in Kriegen aufrieb. So kam es vom 16. bis zum 19. Jahrhundert allein zwischen Russen und Osmanen zu insgesamt elf Kriegen.


Auch wenn die neue Weltordnung noch unklar ist, zeigt sich, dass wieder in miltärischen Kategorien gedacht wird. Europa wird sich dem nicht entziehen können.

Unterdessen trugen die Kolonialmächte ihre Lebensweise um den gesamten Globus und gaben diesem ein neues Gesicht. Den Preis dafür mussten die indigenen Völker der kolonialisierten Länder und die Millionen aus Afrika verschleppten Sklaven zahlen. Und so steht Europa nicht nur für große Leistungen, sondern auch für die größten Untaten der Geschichte, weshalb im frühen 20. Jahrhundert auch sein Abstieg erfolgte.

Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurde es von den USA in nahezu allen Belangen überflügelt, und 1945 erwirtschafteten die Amerikaner schließlich mehr als die Hälfte der globalen Industrieproduktion, verfügten über technologischen Vorsprung in nahezu allen Bereichen und hatten militärische Stützpunkte auf der ganzen Welt. Sie wurden damit zur ersten Hegemonialmacht mit globaler Reichweite.

Europa hingegen war geteilt in zwei feindlich gesinnte Blöcke -NATO gegen Warschauer Pakt -und Westeuropa auf den militärischen Schutz und die wirtschaftliche Hilfe der USA angewiesen. Als Folge wurde endlich die Notwendigkeit einer stärkeren Einigkeit erkannt und 1952 mit der Montanunion auch ein erster Schritt unternommen: Indem die deutsche und die französische Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Behörde gestellt wurden, sollte ein Krieg zwischen diesen Ländern unmöglich werden.

Aus dieser Initialzündung für den europäischen Integrationsprozess entwickelte sich die Europäische Union mit ihren nun 27 Mitgliedsländern und dem Euro als gemeinsamer Währung, wobei sie einen besonderen Schub 1989 durch den Fall des Eisernen Vorhangs erfuhr.

Die dem Integrationsprozess zugrundeliegende Vorstellung einer von gemeinsamen Werten und Normen geleiteten Ordnung war, so Herfried Münkler, den Europäern wie auf den Leib geschneidert.

Eine Weltordnung, die nicht auf militärischer, sondern auf wirtschaftlicher Macht beruht, sollte Wohlstand und Frieden bringen. Allerdings wurden diese Annahmen schon bald erschüttert: durch den Zerfall Jugoslawiens, die Terrorangriffe von 9/11, die von der Lehmann-Pleite ausgelöste Finanz- und Wirtschaftskrise, vor allem aber durch die Flüchtlingsbewegungen von 2015. Die Folgen waren das Erstarken von Rechtspopulisten und Euroskeptikern sowie der Austritt Großbritanniens aus der EU ("Brexit").


Noch einmal: Europa! Aber wie weiter?


Die zunehmende Rivalität zwischen China und den USA, vor allem aber der Angriff Russlands auf die Ukraine, zeigen, dass wieder in militärischen Kategorien gedacht wird. Wenngleich die sich daraus entwickelnde neue Weltordnung noch unklar ist, werden sich die Europäer den damit verbundenen Herausforderungen nicht entziehen können.

Dazu aber braucht es "eine Selbstverwandlung der Europäischen Union von einem Regelbewirtschafter in einen politisch handlungsfähigen Akteur" (Herfried Münkler). Doch Europa - sicherheitspolitisch von den USA, energiemäßig bis vor Kurzem von Russland und wirtschaftlich von China abhängig - fehlt es an technologischer Souveränität ebenso wie an strategischer Autonomie.

Und wenngleich der Ukraine-Krieg (bisher) nicht die von Putin erhoffte Spaltung der Europäer bewirkt hat, wächst doch die Zahl jener, die Vertrautheit und Schutz wieder in ihren Nationalstaaten suchen. Gleichzeitig braucht es aufgrund der zahlreichen zukunftsentscheidenden Herausforderungen vom Klimawandel über die Digitalisierung bis zur Neuformation der Weltordnung mehr Kooperation, denn selbst die größten Länder Europas fallen global betrachtet kaum ins Gewicht.

Wie also soll oder kann sich die EU weiterentwickeln, um die vielfältigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich bewältigen zu können? Darüber finden aktuell kaum Diskussionen statt. Sicher ist jedoch: Europa muss mehr (Selbst-)Verantwortung übernehmen.


ZUR PERSON

Hannes Androsch, geb. 1938 in Wien, ist ehemaliger Politiker und Unternehmer. Als Politiker war er von 1967 bis 1981 SPÖ-Abgeordneter zum Nationalrat und von 1970 bis 1981 Finanzminister, von 1976 bis 1981 auch Vizekanzler unter Bruno Kreisky. Von 1981 bis 1988 war Androsch Generaldirektor der damals staatlichen Creditanstalt.

Seit 1989 ist er als Unternehmer Geschäftsführender Gesellschafter der AIC Androsch International Consulting, seit 1994 Miteigentümer des Leiterplattenherstellers AT & S mit Sitz in Leoben und seit 1997 Miteigentümer der Salinen Beteiligungs GmbH.
Androsch ist zudem Vorsitzender des Universitätsrates der Montanuniversität Leoben, Aufsichtsratsvorsitzender der Finanzmarktbeteiligung Aktiengesellschaft sowie Aufsichtsratsvorsitzender des AIT (Austrian Institute of Technology).


Der Essay ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 10. März 2023 entnommen.

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