Hannes Androsch: Indien und China - Elefant im Schatten des Drachen
1. Teil des Essays von Hannes Androsch: Während China zur globalen Supermacht aufsteigt, macht sich in deren Schatten die nächste Großmacht bereit: Indien ist im Kommen. Und die EU droht in die Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Hannes Androsch, Industrieller und Ex-Politiker (Finanzminister sowie Vizekanzler der Ära Kreisky).
Auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien, der Gewürzroute, zur Vermeidung der von islamischen Herrschern kontrollierten Seidenstraße, landete Columbus vor 500 Jahren in Amerika. Einige Jahre später fand dann Vasco da Gama durch Umschiffung Afrikas einen alternativen Seeweg. Diese Ereignisse waren mitverantwortlich für den anschließenden Aufstieg des Westens. In der Folge verlagerte sich das ökonomische und politische Gravitationszentrum vom Mittelmeer in den atlantischen Raum. Es begann die bis heute andauernde globale Dominanz des Westens.
Nunmehr wendet sich die Sonne der Geschichte wieder dem Osten zu, aus dem sie ursprünglich aufgestiegen ist. Denn nicht nur die Wiege der eurasischen Hochkulturen liegt im Osten, sondern auch China und Indien, die bis weit in die Neuzeit hinein den Großteil der weltweiten Wirtschaftsleistung generierten und mit ihren zivilisatorischen Errungenschaften lange Zeit als bedeutende hegemoniale Mächte fungierten. Das Pendel der Geschichte schwingt heute mit ökonomischen Bedeutungsverschiebungen und geopolitischen Machtverlagerungen zurück in den indopazifischen Raum.
Noch vor 200 Jahren betrug der Anteil Asiens an der globalen Wirtschaftsleistung 60 Prozent, im Falle Chinas 30 Prozent und Indiens 20 Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg betrug der Anteil Asiens etwa 15 Prozent: der Chinas und Indiens je etwa vier Prozent. Inzwischen ist das Gewicht Asiens wieder auf 30 Prozent gestiegen, das Gewicht Chinas hat auf 15 Prozent zugenommen, womit es hinter den USA zur weltweit zweitgrößten Ökonomie aufgestiegen ist.
Neu Delhi arbeitet an der Bildung einer antichinesischen Allianz mit Australien, Japan und den USA, einer Art asiatische NATO.
In nicht allzu großer Ferne wird es den ersten Platz erreichen. Indien -mit vier Prozent Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung zwar noch ein Nachzügler -ist gerade im Begriff, Großbritannien auf Platz fünf abzulösen und in Kürze Deutschland und auch Japan zu überholen, um Platz drei unter den Volkswirtschaften der Welt zu erreichen.
Diese Entwicklung hat in Japan begonnen und wurde von den vier asiatischen Tigerstaaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur weitergeführt. Inzwischen hat sie mit rasantem Tempo China erfasst. Nunmehr folgt mit einigem Abstand Indien: Der Elefant steht also noch im Schatten des Drachen. Indien hat inzwischen mit etwa 7,5 Prozent aber die höhere Wachstumsrate und wird in Kürze der bevölkerungsreichste Staat der Erde sein. Mit einem Medianalter von 27 Jahren wird es eine viel jüngere Bevölkerung aufweisen als China mit 37 Jahren (Österreich: 44, Deutschland: 46).
Dieser natürliche Reichtum erfordert jedoch jährlich zwölf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze, wozu Indien zweistellige Wachstumsraten benötigen würde.
Bei diesen tektonischen Verschiebungen verfolgt China eine klare Strategie: Mit den Initiativen zur Schaffung einer terrestrischen und maritimen, bald auch einer polaren Seidenstraße und der Zielsetzung "Made in China 2025" arbeitet China konsequent am Aufbau seiner regionalen und à la longue auch globalen Vormachtstellung. Inzwischen arbeitet die Volksrepublik auch am Aufbau einer Kriegsflotte, die einerseits die Versorgungswege durch die indonesische Inselwelt und den Indischen Ozean sichern soll und andererseits die Dominanz der in diesen Räumen operierenden US-amerikanischen Kriegsschiffe brechen soll. Das kann auf längere Sicht zu einer chinesisch-amerikanischen Konfrontation führen.
Zuletzt hat sich auch ein weiterer Player in das Ringen um die neue Weltordnung eingemischt: Der russische Präsident Putin will sein Land wieder zur Weltmacht führen, wie sich mit der Annexion der Krim sowie den Einmischungen in der Ostukraine und Syrien zeigt.
Mit der Eurasischen Union verfolgt er einen strategisch konsequenten Weg weg von Europa. Sowohl Russland als auch China wollen die Dominanz der USA und des Westens abschütteln und eine multipolare Weltordnung schaffen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow spricht bereits von der neuen "postwestlichen Weltordnung". Dem gegenüber haben die USA keine Strategie, und noch weniger die EU. Mit dem bereits unter Präsident Obama begonnenen Rückzug der USA aus ihrer weltpolitischen Verantwortung ist der Westen führungslos geworden. Die Situation hat sich mit Präsident Trumps unberechenbarer, ja, erratischer Außenpolitik noch verschärft. Die USA als die größte Wirtschafts- und Militärmacht sind inzwischen für die Welt, aber damit auch für sich selbst zur Gefahr geworden. Zu dieser Schlussfolgerung kommt eine Studie des Councils on Foreign Relations.
Die EU droht durch nationalistische Kleinstaaterei in die Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Die EU ihrerseits ist zerrissen und polarisiert und droht durch nationalistische Kleinstaaterei in die Bedeutungslosigkeit zu versinken. Auch sie ist führungslos und verschläft die Entwicklungen der Zeit. Daran ist Österreich mit seiner zunehmend orbanistischen Ausrichtung nach Kräften beteiligt.
Es ist daher vor allem für Europa hoch an der Zeit, aufzuwachen und umzusteuern. Der gefährliche Zustand der globalen Unsicherheit besteht auch wegen der Schwäche des Westens, obwohl dieser immer noch fast die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung erbringt und rund ein Drittel des Welthandels bestreitet. In der neuen Weltunordnung gibt es etliche weitere Brandherde und noch mehr Bedrohungsbereiche. Diese befinden sich vornehmlich im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika. Dies trifft etwa auf den Irak, Syrien oder Afghanistan ebenso zu wie auf die zunehmend gefährliche Feindschaft zwischen Saudi Arabien, Israel und dem Iran.
In diesem Wirrwarr gefährlicher Unsicherheiten gibt es vier globale "Swing States", also Staaten, die aufgrund ihres ökonomischen und demografischen Gewichts hegemoniale Positionen in ihren jeweiligen Regionen einnehmen und aufgrund ihrer demokratischen Verfasstheit zu strategischen Partnern des Westens zählen. Zu diesen gehören Indonesien, die Türkei, Brasilien und Indien. Doch Indien ist im Begriffe, sich zu einem Leading State zu entwickeln. Im süd- und südostasiatischen Raum hat es diese Stellung bereits erreicht.
Für dieses Bestreben ist die Erzrivalität mit China eine treibende Kraft. China ist in der ökonomischen Entwicklung mit einer fast fünffach höheren Wirtschaftsleistung und ungleich größeren Militärstärke noch weit voraus. Doch Indien hat begonnen, aufzuholen. Es fühlt sich durch China in mehrfacher Weise bedroht und zunehmend umzingelt. Zum einen betrifft dies die anhaltenden chinesisch-indischen Grenzstreitigkeiten, vor allem im Bereich des Shiliguri- Korridors, der zwischen Nepal und Bhutan wie ein Hühnerhals das Land mit seinen nordöstlichen Teilen verbinden, sowie die Spannungen im Bereich des Doklam-Plateaus und der Provinz Arunachal Pradesh, der für die Chinesen Südtibet darstellt.
Dazu kommt die Dauerkonfrontation zwischen Indien und Pakistan wegen Kaschmir, an dem auch China Gebietsinteressen hat, womit drei Atommächte involviert sind. In drei kriegerischen Auseinandersetzungen 1947 bis 1949,1965 und 1971 hat sich das bereits manifestiert.
Indien fühlt sich zunehmend umzingelt und bedroht und sucht eine Antwort auf die chinesische Herausforderung.
Für Indien ist weiters der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor (CPIC) vom Kaschgar im Westen Chinas durch umstrittenes Kaschmirgebiet bis zum Hafen Gwadar eine Bedrohung. Dies betrifft insbesondere dann auch die neue maritime Seidenstraße vom Chinesischen Meer bis in den Persischen Golf und über das Rote Meer - samt den Flaschenhälsen der Straßen von Malakka, Hormus und Bab al-Mandab.
China schafft hier mit einer Reihe von Stützpunkten in Kyaukpyu (Myanmar), Chittagong (Bangladesch), Hambantota (Sri Lanka), Gwanda (Pakistan) bis nach Dschibuti am Horn von Afrika eine Küstenachse von Häfen zur Sicherung der Seewege. Damit ist der Drache in den Hinterhof des Elefanten, dem Indischen Ozean, gelangt.
Indien fühlt sich damit zunehmend umzingelt und bedroht und sucht durch eine Politik der Gegengewichtsbildung seinerseits eine strategische Antwort auf die chinesische Herausforderung. Das Kräftemessen um politischen, wirtschaftlichen und strategischen Einfluss in der Region ist mit erheblichem Konfliktpotenzial verbunden, weshalb es nicht unwahrscheinlich ist, dass mit der Verschiebung des ökonomischen Kraftzentrums der Welt nach Asien der Konflikt um die globale Vorherrschaft zwischen den beiden asiatischen Supermächten ausgetragen wird.
Um den Einfluss Pekings in der Region zu begrenzen und seine eigene Position zu stärken, arbeitet Neu Delhi daher an der Bildung einer antichinesischen Koalitionen und sucht die Allianz mit Australien, Japan und den USA, genannt QUAD (Quadrilateral Security Dialogue), eine Art asiatische NATO.
Für diese geopolitische Ausrichtung braucht Indien eine Stärkung seiner Wirtschaftsleistung. Indem es beginnt, seine Interessen stärker als bisher zu verfolgen, und damit geoökonomisch wie geopolitisch im Kommen begriffen ist, wird Indien die nächste asiatische Supermacht.
Der Autor
HANNES ANDROSCH, Ökonom und Industrieller, war von 1967 bis 1981 Abgeordneter zum Nationalrat, von 1970 bis 1981 Finanzminister sowie von 1976 bis 1981 Vizekanzler unter Bruno Kreisky. Heute ist er geschäftsführender Gesellschafter der AIC-Androsch International Consulting, Miteigentümer der Salinen Beteiligungs GmbH und Vorsitzender des Aufsichtsrates der Salinen Austria AG sowie Miteigentümer und Aufsichtsratsvorsitzender von Europas größtem Leiterplattenhersteller AT & S. Androsch ist weiters Vorsitzender des Universitätsrates der Montanuniversität Leoben, Aufsichtsratsvorsitzender der Finanzmarktbeteiligung AG und Vorsitzender des Rates für Forschung und Technologieentwicklung gewählt.
Der Essay ist der trend-Ausgabe 8/2018 vom 23. Februar 2018 entnommen.