Hannes Androsch: Digitalkapitalismus ohne sichtbares Kapital

Gastkommentar. Der gewaltige Umbruch des Wirtschaftssystems wird zu enormer sozialer Ungleichheit führen. Nur wenige kümmern sich bisher darum.

Hannes Androsch ist Industrieller und ehemaliger SPÖ-Finanzminister sowie Vizekanzler der Ära Kreisky.

Hannes Androsch ist Industrieller und ehemaliger SPÖ-Finanzminister sowie Vizekanzler der Ära Kreisky.

Sieben der heute zehn wertvollsten Unternehmen der Welt sind Internetgiganten, die fünf führenden - Apple, Google/Alphabet, Microsoft, Amazon und Facebook - zudem allesamt amerikanische Firmen. Dicht gefolgt werden sie von den chinesischen Tech-Riesen Alibaba, Tencent und Baidu, Firmen aus Europa finden sich hingegen nicht in der Topliste. Erst auf Platz 17 liegt Royal Dutch Shell als wertvollstes europäisches Unternehmen. Bestplatziertes IT-Unternehmen ist die deutsche SAP auf Rang 62 (bzw. zwölf im Technologieranking). Alle diese neuen IT-Firmen gab es vor 20 Jahren noch nicht - und wenn doch, dann waren sie bedeutungslos.

Schon dieser Umstand zeigt den gewaltigen Umbruch, den unser Wirtschaftssystem derzeit erfährt. Es wandelt sich von der materiellen Wirtschaft mit früher rauchenden Schloten und bislang riesigen Produktionsanlagen (Tangibles) zu einem immateriellen System, das auf geistigem Eigentum, Patenten, Software, Unternehmensprozessen und hochqualifizierten Mitarbeitern beruht (Intangibles). Schon jetzt werden in den Industrieländern für jeden Euro an Investitionen in Tangibles 1,15 Euro für Investitionen in Intangibles ausgegeben. Wir steuern ins Zeitalter des digitalen Kapitalismus ohne sichtbares Kapital.


Es gibt kein Steuermodell für die IT-Giganten

Diese Entwicklung ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass die zusätzlichen Kosten für höheren Ausstoß nahezu null betragen. Sie erzielen also Wachstum ohne zusätzliche Investitionen, weil die Grenzkosten keine Rolle spielen, gleich, ob der Ausstoß eine Million oder eine Milliarde beträgt.

Diese neue Plattformökonomie, also die systemische Vernetzung von Hardware- und Softwareprodukten, monetarisierbaren Daten und Services, zeigt sich am deutlichsten bei den erwähnten Internetgiganten, aber auch bei Uber oder Airbnb. Aufgrund ihrer gewaltigen, oligopolistischen Marktdominanz haben sie inzwischen auch beträchtliche politische Macht und durchdringen zunehmend alle Lebensbereiche. Auch zahlen sie kaum Steuern, da diese nationalstaatlich eingehoben werden, die Unternehmen aber global tätig sind. Damit können sie ihre Besteuerung völlig legal - wenngleich nicht unbedingt moralisch legitim - an die für sie günstigsten Orte verlegen. Zudem gibt es bislang kein Steuermodell, das ihren wichtigsten Rohstoff - die Daten - und ihre tatsächlichen, wenngleich virtuellen Betriebsstätten erfassen könnte.

Als Nutzer erhalten wir ihre Leistungen scheinbar unentgeltlich, tatsächlich aber zahlen wir - bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt - mit Überlassung unserer persönlichen Daten. Diese sind im Einzelnen ziemlich wertlos. In der massenhaften Ansammlung, Analyse und algorithmischen Verknüpfung durch immer leistungsfähigere Computer werden sie jedoch so wertvoll, dass sie den Techgiganten gewaltige Einnahmen verschaffen.

Viele fürchten, dass uns mit dieser Entwicklung die Arbeit ausgehen könnte. Nach allen historischen Erfahrungen wird dies nicht der Fall sein, allerdings werden in der "kreativen Ökonomie" vor allem höher qualifizierte Fähigkeiten nachgefragt und entsprechend bezahlt werden. Für die anderen bleibt lediglich die "Gig Ökonomie", gering bezahlte Tätigkeiten bei formeller Selbstständigkeit - Stichwort "Ich-AGs" -, aber hoher Abhängigkeit, oder Null-Stunden-Verträge, bei denen auch die Fixierung von Mindestlöhnen wirkungslos ist und die Gefahr des Prekariats droht.

Nur wenige kümmern sich bislang um diese Entwicklung, obwohl sie zu gewaltiger sozialer Ungleichheit führen muss. Dazu kommen noch die Auswirkungen des demografischen Wandels durch alternde Gesellschaften. Dies erzeugt in Europa, dessen Bevölkerung rund 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben konsumiert, schon jetzt beträchtlichen Arbeitskräftemangel. Das Problem der Sicherung der Sozialsysteme wird bald hinzukommen.

Darüber hinaus fehlen in Europa nicht nur, wie eingangs erwähnt, global bedeutsame IT-Großunternehmen, auch insgesamt hat es riesigen digitalen Aufholbedarf. Um wieder Anschluss zu finden, sind zeitgemäße (Aus-)Bildungssysteme ebenso notwendig wie entsprechende Forschungsanstrengungen. Kein europäisches Land kann dies allein bewältigen, dazu bedarf es gemeinsamer europäischer Anstrengungen.


Der Autor

Hannes Androsch, Ökonom und Industrieller, war von 1967 bis 1981 Abgeordneter zum Nationalrat, von 1970 bis 1981 Finanzminister sowie von 1976 bis 1981 Vizekanzler unter Bruno Kreisky. Der Ökonomie-Doyen aus den Reihen der Sozialdemokratie schreibt regelmäßig Gastkommentare und Essays für den trend.


Der Gastkommentar ist der trend-Ausgabe 37/2018 vom 14. September 2018 entnommen.

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