Das Fell des Bären
Essay. Wenn wir weiterhin in AMS-Zentren statt in Gründerzentren investieren, wird unser Wohlstand nicht wachsen. Wie Österreich im Zeitalter der Hochtechnologie überleben könnte.
Andreas Salcher - Bildungsexperte und Bestsellerautor
"Man soll das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt ist", lautet eine alte Weisheit. Verfolgt man die Diskussion über die Verteilung der Produktivitätsgewinne durch die Digitalisierung, Stichwort "Maschinensteuer", gewinnt man den Eindruck, dass einige eifrige Politiker und Ökonomen glauben, die Reihenfolge bei der Bärenjagd umkehren zu können. Erst wird das Fell verteilt, dann wird man schon den passenden Bären erlegen.
Das Fell des Bären steht als Metapher für den Wohlstand, den eine Gesellschaft gemeinsam erwirtschaftet. Die entscheidende Frage lautet: Wird das Fell des Bären durch den technologischen Fortschritt wie in den letzten 250 Jahren weiter wachsen und werden genug neue Arbeitsplätze geschaffen, die den Verlust an traditionellen ausgleichen?
Der Ökonom Robert J. Gordon vertritt die skeptische Fraktion. Er befürchtet, dass nach den wirtschaftlichen Revolutionen, ausgelöst durch Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität und zuletzt den Computer, Schluss mit dem Wachstum durch Technik ist. Die Erfindungen seit dem Jahr 2.000 drehen sich vor allem um Unterhaltungs-und Kommunikationsgeräte, die kleiner, klüger und leistungsfähiger sind. Aber den Lebensstandard könnten derartige Neuerungen nicht in einer Art verändern, wie es das elektrische Licht, Autos oder die Wassertoilette vermochten.
Ich durfte dabei sein, als der Ökonom Gordon auf einer TED-Konferenz die Teilnehmer darüber abstimmen ließ, ob sie lieber ein Jahr lang auf die Wassertoilette oder das Internet verzichten könnten. Das WC gewann die Abstimmung mit 60 zu 40 Prozent deutlich. Gordon hat durchaus auch seriöse Argumente wie die schlechte Bildung und die hohen Schulden, die unser Wachstum bremsen werden.
Die optimistische Gegenthese zu Gordon vertreten die zwei renommierten MIT-Forscher, Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee. In ihrem Buch "Das zweite Maschinen-Zeitalter" argumentieren sie, dass die digitale Revolution gerade erst begonnen hat. Sie werde zunehmend nicht nur unsere körperliche, sondern auch unsere geistige Arbeit erleichtern und teilweise ersetzen. Noch nie seien die Produktivitätssteigerungen so hoch gewesen, wie in den letzten zehn Jahren. Dabei würden viele virtuelle Angebote, die wir täglich nutzen, etwa Wikipedia, Google, Skype, Facebook, gar nicht ins Bruttonationalprodukt einfließen.
Das Fell des Bären steht als Metapher für den Wohlstand, den eine Gesellschaft gemeinsam erwirtschaftet.
Immerhin erkennen auch in Österreich die Verteidiger des gewaltigen "geschützten Bereichs" mit der zweithöchsten Staatsquote innerhalb der EU langsam, dass die Digitalisierung die Geschäftsmodelle von ganzen Branchen massiv auf- und zerbrechen könnte.
Die Überlegungen gehen aber nicht etwa in die Richtung, die Grundlagen der Digitalisierung zu verstehen und unsere Wirtschaft darauf vorzubereiten, sondern konzentrieren sich auf die Frage, wie denn die zukünftigen Produktionsgewinne umverteilt werden könnten.
Beider Debatte um die Maschinensteuer gewinnt man den Eindruck: Erst wird das Fell verteilt, dann wird schon den passenden Bären finden.
Schon der Begriff "Maschinensteuer" zeigt, dass das Denken eher auf einem historischen Verständnis des 19. Jahrhunderts als einem des 21. Jahrhunderts basiert. Im Kern will man das Fell des Bären der Digitalisierung verteilen und vor allem umverteilen. Das Problem könnte sein, dass man die Rechnung ohne den Bären macht. Dieser ist scheu und wählt seine Reviere sorgfältig aus.
Die Anreize, sich in Österreich anzusiedeln, sind alles andere als groß: Ein riesiger, hungriger Verwaltungsapparats reglementiert jede unternehmerische Initiative durch Arbeitszeitvorschriften und Schutzregelungen, die für den Hochofenarbeiter sinnvoll, aber für den Softwareingenieur absurd sind. Es scheint allerdings wenig realistisch, dass unsere Arbeitsinspektoren die Toiletten im Silicon Valley mit ähnlicher Verve vermessen oder unsere Baubehörden im indischen Bangalore jede Betriebserweiterung jahrelang verhindern können wie bei uns.
Daher werden Bären, die schnell wachsen und neue Höhlen bauen wollen, dorthin wandern, wo man sie lässt.
Ein Beispiel: Die Werbeeinnahmen alleine von Facebook überstiegen im ersten Halbjahr 2016 in den USA jene aller Zeitungen und Magazine inklusive deren Online-Erlöse. Nun könnte man auf die Idee kommen, große Bären wie Facebook in Österreich mit einer "Maschinensteuer" zu belasten, um so ihr Fell gerecht zu verteilen. Das unlösbare Problem ist dabei, dass Facebook in Österreich nicht einmal ein Büro hat. Selbst hoffnungslose Optimisten glauben wohl nicht daran, dass die gelähmte EU endlich durchsetzt, Gewinne in jenem Land zu besteuern, in dem sie erzielt werden. Das wäre aber unbedingt notwendig, um Produktivitätsgewinne von Unternehmen mit hohem Gewinn und wenigen Mitarbeitern mit einer Maschinensteuer belasten zu können.
Auch traditionelle Branchen wie Banken und Versicherungen werden immer stärker von Finanztechnologie-Start-ups aus dem Silicon Valley, aber auch aus Berlin oder London angegriffen. Diese Fintechs zielen nicht nur auf die profitabelsten Teile der Wertschöpfungskette ab, sondern entwickeln Modelle, um gleich das Kerngeschäft der Banken wie den Zahlungsverkehr zu übernehmen.
Wer braucht noch ein Bankkonto, wenn der Geldverkehr sicher in Echtzeit bankenunabhängig durchgeführt werden kann? Die bittere Konsequenz: Ganze Berufsgruppen würden ausradiert. Die neuen Arbeitsplätze für Software-Ingenieure und Mathematiker würden sicher nicht in Österreich geschaffen, und Gewinne der global agierenden Fintechs wären dem Zugriff unserer Steuerbehörden entzogen. Wenn wir weiterhin in AMS-Zentren statt Gründerzentren investieren, wird das Fell des Bären sicher nicht größer werden. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung hat sich entgegen allen Behauptungen schleichend zu einem arbeitslosen Grundeinkommen entwickelt. Es gibt in den Städten inzwischen ganze Dynastien von Sozialhilfeempfängern. AMS-Berater erscheint als einer der wenigen sicheren Zukunftsberufe.
Dabei gäbe es durchaus Chancen für Österreich, ein Stück des Fells des Bären abzubekommen:
Erstens: Bei PISA sind wir in der Durchschnittsfalle gefangen. Unsere Lehrlinge sind dagegen Weltklasse. Wir sind Berufsweltmeister. Diesen Titel müssen wir verteidigen, indem wir den Unternehmen wieder garantieren, dass Schulabgänger zumindest sinnerfassend lesen können.
Zweitens: "Mr. Hidden Champions" Professor Hermann Simon hat im trend-Interview (Ausgabe 48/2016, 2. Dezember) einleuchtend argumentiert, warum wir uns um Klein-und Mittelbetriebe, die sich international in Nischen positioniert haben, keine Sorgen machen müssen. Ihr Spezialwissen bedeutet eine hohe Eintrittsbarriere, und ihre Geschäftsmodelle sind nicht skalierbar.
Wir müssen uns vom Land der Hochbürokratie zum Land der Hochtechnologie transformieren. Dann werden die Tausenden Klein-und Mittelbetriebe ihre großen Exporterfolge durch Vernetzung mit den Universitäten weiter ausbauen können.
Drittens: Die Welt teilt sich in Lerner und Nichtlerner. Die Entscheidung fällt meist schon im Kindergarten. Daher brauchen wir die besten Kindergärten, in denen die Lust der Buben und Mädchen auf Naturwissenschaften und Technik früh geweckt wird und Teamfähigkeit, Resilienz und Selbstwertgefühl entwickelt werden.
Ich gehöre zu den Optimisten, die daran glauben, dass es für die großen und kleinen Bären weiterhin attraktiv bleiben könnte, sich hier anzusiedeln.
Mein Wunsch für 2017: Lassen wir die Bären leben.
Zur Person
Andreas Salcher Der Bildungsexperte, Bestsellerautor und Unternehmensberater ist regelmäßiger trend-Autor.