Essay - Das Reißnagel-Prinzip 2.0
Essay. Wie man den Gebildeten gibt und trotzdem sympathisch bleibt.
Helmut A. Gansterer
"Bildung allein genügt nicht. Man muss auch gescheit sein und sie maßvoll einsetzen."
Adam Bronstein
Die jüngsten unserer Leser sind schon Kinder des neuen Jahrhunderts. Sie sind uns besonders lieb, aus drei Gründen. Erstens tragen sie früh zum Gewinn des Magazins bei. Zweitens bringen sie frischen Wind in die Zuschriften, erleichtern damit die Findung zeitnaher Stoffe. Drittens bestätigen sie meine Zuversicht, dass in den Ambitionierten der heutigen Jugend eine brillante Generation heranwächst. Wer schon mit 18 Jahren Wirtschaftstexte liest (und, falls nicht aus reichem Hause, sein Taschengeld dafür opfert), weckt größte Hoffnungen für den Wirtschaftsstandort Österreich.
Dass viele aus der Vorgeneration der Väter und Mütter meine Zuversicht nicht teilen, darf die Jungen nicht kränken. Ich empfehle ein nachsichtiges Lächeln. Denn alle Eltern waren zu allen Zeiten bescheuert, wenn es um die Einschätzung der Sprösslinge ging. Fast ausnahmslos glaubten sie, ihre eigene Generation sei die letzte, die mit Fleiß und Genie einen Wohlstand schuf, während die leichtfertige Jugend nur an den süßen Früchten interessiert sei.
Dieses lachhafte Spiel von Alt &Jung hat nichts Böses. Es ist psychologisch begründbar. Es ist auch kein Phänomen der Neuzeit. Es kann seit der Wiege unserer Kultur lückenlos nachgewiesen werden.
Selbst Aristoteles, der Einser-Denker des antiken Griechenland und Lehrer von Alexander dem Großen, dem mächtigsten Mann seiner Zeit, grantelte in einem Brief wie einer der Väter von heute. Er warf der Jugend vor, sich abenteuerlich zu kleiden, nachlässig zu grüßen, beim Essen zu schwätzen, den Alten frech zu widersprechen und statt an Leistung nur an Jux und Tollerei zu denken.
Genug davon. Ein herzliches Willkommen der prächtigen Generation neuer trend-Abonnenten.
Meine intakte Bewunderung gilt freilich auch den Eltern, die im gleichen Maß unter den Großeltern gelitten hatten. Und tatsächlich Großes leisteten.
Denn parallel zum trend, der 1970 als erstes österreichisches Magazin modernen Zuschnitts gegründet wurde, gerieten sie in die wildeste Epoche der neueren Wirtschaftsgeschichte. Angestoßen durch die Jugend-Revolutionen der späten 1960er-Jahre blieb kein Stein auf dem anderen.
Alle alten Paradigmen zerbröckelten. Auch die Menschenführung der Unternehmer und ihrer Topmanager. Im Wesentlichen ging es darum, das autoritäre "Anschaffen und Gehorchen" in ein freundliches Teamwork mit den nun so genannten "Mitarbeitern" (früher: "Untergebenen") zu verwandeln.
trend wühlte entzückt in neuen Musts wie "Niedrige Hierarchie" und "Motivation". Für unsereins, der schon als früher Twen den trend-Essay schreiben durfte, ein Paradies. Umso mehr, als sich Österreichs Unternehmer als vorbildlich flexibel erwiesen - bis auf einige Altindustrielle, die mit altem Cognac die guten, alten Zeiten zurückträumten.
Das Ausland bewunderte Österreich als elastisches Unternehmerland. Nicht zuletzt Deutschland, wo man sich schwerer tat, den "Herrenmenschen im Boss" zu reformieren. Gottlob gab es "österreichische Entwicklungshilfe für Deutschland", wie ein frecher trend-Essay tönte. Exportierte Führungskräfte wirkten segensreich in Deutschlands Autoindustrie, Maschinenbau und den Medien. Das Magazin "Der Spiegel" titelte: "Ist Österreich das bessere Deutschland?"
Man hat dort die Leistung des kleinen Nachbarn nicht vergessen. Zumal man unseren heutigen Industriellen und 300.000 KMU, darunter viele Hidden Champions, zuspricht, mit "Made in Austria" das "Made in Germany" eingeholt und "Swiss-made" übertroffen zu haben.
Die klugen trend-Leserinnen und schönen trend-Leser dieser "Neuzeit" der 1970er-und 1980er-Jahre fielen durch außergewöhnliche Treue auf. Und durch ein scharfes Gedächtnis, das den Autor oft nervte. "Das haben Sie früher anders gesehen", spottete jüngst eine Leserin nach einem Essay, der von früheren abwich.
"Was interessiert mich mein Unsinn von gestern?", antwortete ich mit einem Satz des deutschen Alt-Kanzlers Adenauer. Ich legte ihr dennoch meine Verehrung zu Füßen. Gewiss wusste diese Leserin auch noch, dass ich den Begriff "Reißnagel-Prinzip" (siehe Titel) schon früher verwendet hatte. Damals ging es um die Frage, ob ein Manager eher Generalist oder Spezialist sein sollte, um Karriere zu machen.
Reißnagel hieß dort: Eine möglichst breite Auflage schaffen, aber an einer Stelle so spitz in die Tiefe gehen, dass man weltweit zu den Gesuchten gehört.
Nun also Reißnagel 2.0 in Fragen der persönlichen Bildung.
Ehe dies genauer erklärt wird, ein Hinweis darauf, dass der Wert der Bildung für Führungskräfte grausam umstritten ist. Speziell in Amerika und Asien gibt es Denkschulen, die einer möglichst reinen, von "Wissensqualm" (Goethe, Faust 1) unbelasteten Person einen stärkeren "Zug zum Tor" verheißen. Also einen mental unbehinderten Zugang zu hohen Profiten, was im Kriminalbusiness (Drogen, Prostitution) unmittelbar einleuchtet. Aber auch in zivilen Branchen, die ich nicht nennen will und vielleicht unfair entwerten würde, findet man verblüffend viele Sieger, mit denen man nur bildungsfreie Gespräche führen kann.
Der Begriff Bildung ist eigentlich nie explizit mit dem Begriff Wirtschaftserfolg verbunden worden, auch nicht in der ältesten Kulturregion Europa. Am ehesten noch mit speziellen Jobs. In Frankreich galt als logisch, dass ein Kulturpolitiker wie Malraux gebildet war. Ein hoch gebildeter, linker Präsident Mitterrand, dem Paris die Louvre-Pyramide verdankt, verstörte hingegen enorm. Denn er hatte die höchste Form der Bildung, die Kunstliebe, in ein Amt verschleppt, das dafür nicht vorgesehen ist. Es gab auch keinen weiteren Europäer, der darin auffällig geworden wäre.
Komplizierter ist die Lage bei Unternehmern. Viele zeigen sich gern mit Kunstwerken -aber erst nach dem Erfolg. Einem einzigen Österreicher (nicht bauMax-Essl gemeint) traue ich zu, dass Kunstliebe die innere Sprungfeder seines Erfolgs war, der mit Kunst nichts zu tun hatte. Der dann aber, im Ruhestand, segensreich für die Kunst tätig wurde. Vielleicht sollte ich ihn demnächst für trend porträtieren.
Es gibt diesen Gentleman noch, im Gegensatz zu den alten Bankiers, die Bildung als unverzichtbaren Teil ihrer elitären Existenz sahen. Aus diesem Grund genoss ich Gespräche mit Creditanstalt-General Heinrich Treichl, zuletzt eine Diskussion in der norditalienischen Abbazia Rosazzo.
Nach allen Zyklentheorien wird nach der seichten Blog-Zeit der Besserwisser, Idioten, Fakers und Shitstormers eine Sehnsucht nach Bildung aufsteigen.
Gleichwertig genoss ich den Länderbank-General Franz Ockermüller. Dieser empfing mich um fünf Uhr früh. Mit einem uralten Armagnac testete er meine Tauglichkeit. Und erzählte dann die wunderbare Geschichte, wie er mitten in einer Festrede ins Altgriechische wechselte. Und listig die Society-Schnepfen in der ersten Reihe beobachtete, die so taten, als verstünden sie ihn.
Dass Bildung neu in den Sinn kommt, liegt an der Zeit. Nach allen Zyklentheorien wird nach der seichten Blog-Zeit der Besserwisser, Idioten, Fakers und Shitstormers eine Sehnsucht nach Höherem aufsteigen. Gebildete werden aufstrahlen und speziell von den klassischen Medien wie Print, Radio und Fernsehen und deren Onlinekanälen neu geschätzt werden.
Manager und Unternehmer werden dafür mein Reißnagel-Prinzip 2.0 nützlich finden. Mit Wikipedia verschaffen sie sich schnell eine breite, seichte Auflage. Und dann eine spitze Tiefe dort, wo die persönliche Leidenschaft wohnt.
Also beispielsweise: Zuerst alle Wirtschaftstheorien im Überblick, dann speziell der österreichische Superstar Joseph A. Schumpeter. Zuerst alle Technik-Genies, dann speziell Prof. Ferdinand Porsche. Zuerst alle Neurosen, dann Sigmund Freud.
Und sobald all diese berufsimmanenten Bildungsthemen intus sind, wird man die vielleicht noch verschüttete Kunstliebe nach dem Reißnagel-Prinzip wecken. Zunächst den Expressionismus im Ganzen überfliegen, dann Oskar Kokoschka gründlich als Unikat studieren, nach einer Vogelschau der Oper den unwiderstehlichen Mozart, nach einer Grundierung der Filmwelt Michael Haneke.
Man muss halt, um nicht unsympathisch zu werden, sparsam mit dieser Bildung umgehen. Auch wenn es schwerfällt. Denn schon diese x-beliebigen Beispiele zeigen, dass unser 200-Staaten- Planet ohne das kleine Land Österreich arm wäre.
Das Essay ist der trend-Ausgabe 43-44/2018 vom 25. Oktober 2018 entnommen.