Künstliche Intelligenz schlägt menschliche Dummheit

ChatGPT hat einer sonst eher an TikTok und Instagram interessierten breiten Öffentlichkeit das Potenzial von künstlicher Intelligenz (KI) anschaulich gemacht. Doch was wird aus uns Menschen, wenn KI Aufnahmetests an Universitäten, Dissertationen oder sogar trend-Essays besser schafft als wir? Was wäre, wenn das größte Problem wir selbst sind?

Thema: Künstliche Intelligenz (KI)
Andreas Salcher, Bildungsexperte, Autor und Unternehmensberater

ANDREAS SALCHER. Der Bildungsexperte, Bestsellerautor und Unternehmensberater ist regelmäßiger trend-Autor.

Mit ihrer spontanen Analyse, "dass ChatGPT halt so was wie früher der Schummelzettel ist", bewies die Lehrergewerkschaft einmal mehr ihr tiefes Verständnis der digitalen Revolution. Daher drängt sich beim Thema Schule und ChatGPT eine Frage auf: Können beziehungsweise sollen Lehrer durch Computer ersetzt werden?

Nein, Computer können Lehrer nicht ersetzen. Lehrer haben eine wichtige soziale und emotionale Funktion in der Bildung, die ein Computer nicht erfüllen kann. Sie können Interaktionen mit Schülern fördern, persönliche Beziehungen aufbauen und Feedback geben, das auf die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten jedes Schülers abgestimmt ist. Stattdessen kann die Technologie als Werkzeug für Lehrer eingesetzt werden, um ihre Arbeit zu unterstützen und den Lernprozess zu verbessern.

Diese differenzierte und kluge Antwort stammt nicht von mir, sondern von ChatGPT. Dem derzeit grassierenden Ratespiel "Stammt dieser Text von einem Menschen oder von ChatGPT?" will ich mich nicht ganz verschließen. Ein bisschen Unterhaltung darf sein.

Keine Sorge, in diesem Essay geht es aber nicht darum, die zweifellos disruptive Macht von ChatGPT und dem multimodalen Nachfolgesystem GPT-4 bedeutungsschwanger auszuleuchten, das können andere besser. Und wer vernichtende Kritik an ChatGPT sucht, dem sei Noam Chomsky ans Herz gelegt, für den es sich um "Hightech-Plagiarismus" und "einen Weg, um Lernen zu verhindern", handelt. Gute Essays inspirieren aber nicht durch trockene Analysen, sondern durch Geschichten:

Im Jahr 2011 bot der Stanford-Professor Sebastian Thrun, ehemaliger Leiter von "Google X", seinen Kurs "Einführung in die künstliche Intelligenz" kostenlos per Videoaufzeichnung im Internet an. Die Plattform musste nach wenigen Tagen geschlossen werden, weil sich bereits über 90.000 Menschen eingeschrieben hatten. Von diesen angemeldeten Onlineteilnehmern bestanden 23.000 die Abschlussprüfung und erhielten ein reguläres Stanford-Zeugnis für diesen Kurs. Das waren mehr, als Thrun in seinem ganzen Leben in Hörsälen hätte erreichen können.

Noch überraschender: Der beste Stanford-Student, der diesen Kurs traditionell im Hörsaal absolvierte, belegte in diesem Ranking den 413. Platz. Das bedeutet, dass 412 Menschen aus der ganzen Welt, die es nie an die teure Spitzenuniversität Stanford geschafft hätten, besser als die vermeintliche Elite waren.

Als Konsequenz gründete Sebastian Thurn die Internet-Universität Udacity mit dem Ziel, das selektive System für einen kleinen Kreis Privilegierter in den Industriestaaten zu revolutionieren. Zusammen mit Partnern wie Google, Facebook und Salesforce entwickelt das Unternehmen Kurse, die klassische Bildung mit Berufsfähigkeiten verbinden sollen. Heute bietet Udacity alleine im Bereich KI 14 Onlinekurse an.

Die japanische Wissenschaftlerin Noriko H. Arai wollte testen, wie nahe KI dem Menschen schon kommen kann. Sie entwickelte den sogenannten Todai-Roboter und ließ diesen 2015 und 2016 anonymisiert zu der extrem selektiven schriftlichen Aufnahmeprüfung für die Universität von Tokio antreten. Der Roboter lag in Mathematik unter dem besten einen Prozent aller Bewerber. Viel überraschender schrieb er in Englisch sogar einen der besten Essays.

Trotzdem schaffte der Todai-Roboter den Aufnahmetest letztlich nicht, denn bei Aufgabenstellungen, die ein tiefes sprachliches und zwischenmenschliches Verständnis verlangten, scheiterte er oft kläglich, weil er die Fragen fehlinterpretierte. Das war sieben Jahre vor ChatGPT. Wir können annehmen, dass der Vergleich zwischen KI und einem Studienbewerber heute anders ausgehen würde. Forscher gehen davon aus, dass GPT-4 die US-Rechtsanwaltsprüfung schaffen wird. Mit Bestehen dieser Prüfung erlangen Juristen die Zulassung in eine Anwaltskammer. Kein verheißungsvolles Szenario für angehende Rechtsanwälte - nicht nur in den USA.


Wir müssen uns auf das konzentrieren, was Maschinen nicht können: Kooperation in Teams, soziale Kommunikation und Empathie und kritisches Denken.

Im Dezember 2017 besiegte das Schachprogramm AlphaZero von Google Stockfish 8, welches bis 2016 als bestes Computerschachprogramm galt. Stockfish 8 verfügte über Zugang zu Jahrhunderten an menschlicher Schacherfahrung und den besten existierenden Schachcomputern. Es konnte pro Sekunde 70 Millionen Stellungen berechnen. AlphaZero schaffte hingegen nur 80.000 pro Sekunde und es wurde mit keinerlei Schachstrategien programmiert, nicht einmal mit den bekanntesten Eröffnungszügen.

Dafür lernte AlphaZero mit KI, indem es gegen sich selbst spielte und sich Schach autodidaktisch beibrachte. Selbst Computerschachexperten waren verblüfft darüber, dass AlphaZero 28 von 100 Partien gegen Stockfish gewann, die anderen 72 endeten unentschieden. Stockfish 8 konnte keine einzige Partie gewinnen. Raten Sie einmal, wie lange AlphaZero gebraucht hat, um das Schachspiel von Anfang an zu erlernen und dann geniale Strategien zu entwickeln? Ein Jahr, einen Monat, eine Woche? Die richtige Antwort lautet: vier Stunden.

Die vierte Geschichte führt von technologischen Spitzenleistungen in die Realität unseres Schulsystems. Eine Bekannte hat mir erzählt, dass sie pro bono als Mentorin bildungsferne Jugendliche unterstützt. Als sie mit ihrem Schützling am Computer eine Bewerbung für eine Lehrstelle schreiben wollte, musste sie feststellen, dass dieser die @-Taste am Computer nicht finden konnte, um die Bewerbung per E-Mail abzuschicken. Der 15-Jährige besaß ein positives Schulzeugnis. Früher konnte man trotz schlechter Qualifikation oft einen Job finden, das ändert sich aber: Das Arbeitslosigkeitsrisiko bei Pflichtschulabsolventen ist laut dem AMS seit 2008 von 49 auf 64 Prozent gestiegen.

Eines scheint sicher: Künstliche Intelligenz schlägt menschliche Dummheit. Junge Menschen, die komplexe Texte nicht sinnerfassend lesen können, werden im Wettbewerb um qualifizierte Jobs chancenlos gegen KI sein.

Diese Gefahr besteht zunehmend auch für höhere Schüler und Studenten. In unseren Schulen und teilweise auch Universitäten werden oft noch immer diejenigen Inhalte vermittelt, die am einfachsten mit Multiple-Choice-Tests zu prüfen sind. Diese entsprechen leider genau den Fähigkeiten, die am schnellsten in Zukunft durch KI ersetzbar sind.

Daher geht auch die wie das Ungeheuer von Loch Ness immer wieder auftauchende Forderung, dass alle Schüler Coding lernen müssen, in die falsche Richtung. Ein Großteil der Tätigkeiten, die heute noch gut bezahlte Programmierer leisten, wird in Zukunft von sich selbst programmierenden Systemen übernommen.

Wir müssen uns auf das konzentrieren, was Maschinen nicht können: Kooperation in Teams, soziale Kommunikation und Empathie, kritisches Denken und Problemlösungsverfahren wie z. B. Design Thinking und - vor allem Kreativität. Steve Jobs konnte nicht programmieren und revolutionierte trotzdem mehrere digitale Schlüsselindustrien mit seinem genialen Vorstellungsvermögen.

Sie werden feststellen, dass dieser Essay widersprüchlich ist und der rote Faden fehlt. Manche fühlen sich dadurch irritiert. Das ist großartig. Denn Neues zu erkennen, beginnt oft mit Irritation. Irritation ist die staunende Überraschung. Irritierbarkeit im Sinne von Überraschungsfähigkeit ist ein Synonym für Lebendigkeit.

Diese Lebendigkeit unterscheidet uns von KI. Deshalb sollten wir die Entwicklung von KI nicht nur den Programmierern überlassen, sondern selbst Verantwortung dafür übernehmen. Dazu rät auch Bill Gates: "Die meisten Menschen überschätzen, was sie in einem Jahr erreichen können, und unterschätzen, was sie in zehn Jahren erreichen könnten."


Der Essay ist der trend. edition+ Ausgabe März 2023 entnommen.

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