Wall Street Banken: Der "Schurken"-Händler ist ein Mythos
Die Wall Street besinnt sich zurzeit auf ihre alte Angewohnheit zurück, Junior-Banker und - Händler dafür verantwortlich zu machen, wenn etwas schief läuft. Das ist besonders beunruhigend, weil es in der Bankenbranche eigentlich genauso ist wie beim Militär: Man kommt in dem Bereich nicht sehr weit, wenn man nicht genau das tut, was der Vorgesetzte einem gesagt hat. Die Idee, dass es so etwas wie einen Schurken-Händler gibt, ist ein Mythos. Das Ziel einer jeden Finanzfirma ist stets, mehr Geld zu machen, und dies auf jede gesetzlich gerade noch so zu rechtfertigende Art. Da werden mit Hypotheken besicherte Wertpapiere verkauft, immer größere Fusionen und Übernahmen angestrebt oder immer höhere Wetten darauf abgegeben, in welche Richtung sich irgendein obskurer Bond-Index bewegt.

Wenn alles gut läuft, und die Firma zieht einen Großauftrag für Underwriting oder eine hochkarätige Fusion an Land oder führt ein profitables Handelsgeschäft durch, dann fehlt es nicht an Top-Bankern, die die Anerkennung dafür beanspruchen. Wenn hingegen etwas schief läuft - siehe der Londoner Wal oder synthetische CDOs, Abacus - verschwinden die leitenden Manager schneller von der Bildfläche als Kakerlaken, wenn das Licht angemacht wird.
Im Gegenzug erhalten Wall-Street-Mitarbeiter mehr Geld als bei so ziemlich jedem anderen Job auf diesem Planeten - und müssen noch nicht einmal ihr eigenes Geld riskieren. Darüber wird an der Wall Street nicht diskutiert. So ist das einfach. Wer das nicht mag, kann ja gehen. (Tut mir leid, Greg Smith.)
Dennoch sollen wir jetzt glauben, dass eine Handvoll Junior-Banker und -Händler an vielen der Dinge Schuld ist, die letztendlich zur Finanzkrise geführt haben. Und sie sollen auch völlig eigenständig gehandelt haben.
Ein Beispiel: Goldman Sachs Group Inc. und die Securities and Exchange Commission (SEC) geben auch weiterhin Fabrice Tourre, einem früheren Vice President der Großbank, die Schuld daran, Abacus 2007-AC1 zusammengestellt und verkauft zu haben. Wegen dieser verpfuschten synthetischen forderungsbesicherten Schuldpapiere (CDOs) zahlte Goldman 550 Millionen Dollar, um einer Zivilklage der SEC zu entgehen. Tourre hingegen muss sich im Juli einem solchen Verfahren stellen. In der Zwischenzeit zahlt Goldman seine Rechtskosten, er macht einen Doktortitel an der University of Chicago und leistet humanitäre Hilfe in Ruanda.
Anfang dieses Monats warf die Commodity Futures Trading Commission (CFTC), die US-Aufsicht der Futures- und Optionsmärkte, Matthew Marshall Taylor vor, im Jahr 2007 eine Handels-Position im Volumen von 8,3 Mrd. Dollar vermeintlich versteckt zu haben. Taylor, ein weiterer früherer Vice President bei Goldman Sachs, habe bei der Firma dadurch Kosten von 119 Millionen Dollar verursacht. Der Verlust ging damals etwas unter, da die Bank einen Vorsteuergewinn von 17 Mrd. Dollar einfuhr. Die CFTC erklärte, Taylor habe Handelsgeschäfte erfunden und dann die Entdeckung seiner Intrige durch Goldman behindert, indem er falsche, irreführende oder täuschende Informationen und Berichte weitergereicht habe.
Nicht so schnell, sagt hingegen Taylors Anwalt Ross Intelisano. Sein Klient weise diese ganzen Anschuldigungen entschieden von sich. Er habe niemals bewusst erfundene Handelsgeschäfte eingegeben. Zudem sei es Taylor selbst gewesen, der Goldman auf den Verlust aufmerksam gemacht habe, und nicht umgekehrt, sagt Intelisano. Haben also eher höhere Mitarbeiter ihre Pflicht nicht erfüllt?
Dann ist da Kweku Adoboli, der frühere Schurken-Händler der UBS AG, der zurzeit in London vor Gericht steht, weil ihm vorgeworfen wird, der Bank einen Verlust von 2,3 Mrd. Dollar beschert zu haben. Keiner seiner Vorgesetzten soll davon etwas gewusst haben. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft.
Sein Anwalt Charles Sherrard bediente sich im Schlussplädoyer einer Metapher, um Einblicke in die Kultur an der Wall Street zu gewähren. In einer Szene des Films Spartakus mit Kirk Douglas von 1960 tritt der Gladiator vor und nimmt alle Schuld an dem Sklavenaufstand auf sich. Die anderen Gladiatoren treten daraufhin jedoch auch vor und sagen, dass sie Spartakus seien, so dass keiner individuell bestraft werden kann. An der Wall Street lief das etwas anders: Drei Ex-Kollegen von Adoboli sagten gegen ihn aus.
Herr Adoboli steht auf und sagt: Ich bin Spartakus, woraufhin die anderen drei aufstehen und sagen: Ja, er ist es!, erklärte Sherrard der Jury. Herr Adoboli setzt eher auf die Gemeinschaft als auf den Einzelnen. Er zitierte aus E- Mails des Angeklagten: Wir sind ein Team, wir arbeiten zusammen. Wenn einer versagt, versagen alle. Wenn einer Erfolg hat, haben alle Erfolg.
Ein ähnliches Drehbuch wird voraussichtlich auch für Javier Martin-Artajo geschrieben werden, der die Aufsicht über Bruno Iksil hatte, als dieser mehr als 6 Mrd. Dollar bei JPMorgan Chase & Co. verlor. Im vergangenen Monat reichte die Großbank in London Klage gegen Martin-Artajo ein, ohne genauer zu sagen, was ihm genau vorgeworfen wird. Will uns JPMorgan wirklich glauben machen, dass Martin-Artajo alleine gehandelt hat, ohne dass die Chefetage in New York darüber Bescheid wusste? Gleichzeitig machen sich das FBI und andere Behörden auch auf die Suche nach kleinen Fischen und untersuchen, ob weitere Fußsoldaten im Londoner Chief Investment Office (CIO) der Bank Verluste verborgen haben, indem Positionen falsch ausgepreist wurden.
Damit soll nicht gesagt werden, dass diese ganzen Banker unschuldig sind oder nicht zur Verantwortung gezogen werden sollten. Doch uns glauben machen zu wollen, dass sie in einem Vakuum gehandelt haben, widerspricht der Art und Weise, wie diese Branche funktioniert. Was uns die Chefetagen der Wall Street (und Washington) damit sagen wollen, ist klar und etwas beängstigend: Wenn alles gut läuft und du tust, was dir gesagt wird, erhältst du dafür den Lohn. Aber wenn es nicht so gut läuft und ein Opferlamm gebraucht wird, kannst du es sein, den wir auftischen werden.
William D. Cohan ist Autor von Money and Power: How Goldman Sachs Came to Rule the World und Kolumnist für Bloomberg View. Er war früher Investmentbanker bei Lazard Freres, Merrill Lynch und JPMorgan Chase und verlor gegen letztere ein Schlichtungsabkommen wegen seiner Entlassung. Er vertritt seine eigene Meinung.