Hans-Peter Hutter: "Für Hinhaltetaktiken ist es zu spät"
Als Umweltmediziner hat er uns das Corona-Schutzkonzept verdeutlicht. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Hans-Peter Hutter mit gesundheitsbelastenden Umwelteinflüssen. Ein Interview zu Corona und was wir dazu beitragen sollten, dass wir nicht sofort in die nächste Krise schlittern.
Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner und stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin an der Medizinischen Universität Wien.
trend:
Im Zuge von einem Jahr Lockdown wurden nicht nur die meistgegoogelten Wörter wie Hoffnung oder Sauerteig ermittelt, sondern auch die ärgerlichsten Politiker-Stehsätze von der "entscheidenden Phase" bis zum Ketchup-Impfgleichnis unseres Kanzlers. Welches Wort geht Ihnen nach diesem Jahr auf die Nerven?
Hans-Peter Hutter:
Besorgniserregend. Das Wort ist abgenützt. Ebenso wie Katastrophe. Wenn man solche Begriffe ständig verwendet, nimmt sie keiner mehr wirklich ernst. Generell gibt es puncto Krisenkommunikation in der Pandemie noch viel Luft nach oben.
Was hat uns dieses Jahr sonst gebracht? Angststörungen, neue Verschwörungstheorien, ein Ohnmachtsgefühl - oder freuen Sie sich einfach über ein bewussteres Hygieneverhalten?
Ich sehe das ambivalent. Gut ist, dass die Wissenschaft und damit auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stärker an die Öffentlichkeit getreten sind, sodass ihre Arbeitsweise und ihre Aufgabe in der Gesellschaft sichtbarer wurden. Was das Händewaschen betrifft, ist es ein Armutszeugnis, dass man noch erklären muss, es handle sich dabei um eine sehr wirksame und einfache Infektionsschutzmaßnahme. Zumindest das sollte sich bleibend eingeprägt haben. Schlimm finde ich, wie schnell der merkbare Wandel zu mehr Solidarität im ersten Lockdown mit Anhalten der Krise wieder verpufft ist. Wir sind eben keine wirklich solidarische Gesellschaft, jeder ist sich lieber selbst der Nächste. Die Krise hat eine Lupe auf die Schwachstellen unserer Gesellschaft gelegt. Eine davon sind die sozialen Medien als Vehikel für die rasante Verbreitung von Absurditäten, die leider von einem Teil der Gesellschaft ernstgenommen werden und wichtige Diskurse erschweren.
Ich habe keine Zeit für Zeit für haarsträubenden Unsinn.
Wie fühlt sich denn ein Wissenschaftler angesichts von Verschwörungstheorien, dass das Virus in einem von Bill Gates finanzierten Labor erzeugt worden ist, und anderer obskurer Mythen?
Ich halte mich aus psychohygienischen Gründen davon fern und empfehle das auch allen anderen. Das raubt nur Zeit, Energie und Nerven. So wie gegen die Ausbreitung von Viren hilft auch gegen die Ausbreitung solcher Mythen Abstand und Kontaktvermeidung. Dann sterben sie von selbst aus. Außerdem möchte ich mich lieber mit den täglich neuen Erkenntnissen beschäftigen, um die epidemiologische Situation besser einzuschätzen und fundierte Empfehlungen abzuleiten. Zeit für haarsträubenden Unsinn - wie etwa, dass einem während eines Testabstriches Nanoroboter eingesetzt werden - habe ich keine. Diskussionen darüber sind ebenso entbehrlich. Leider hat die Verbreitung unglaubliche Dimensionen angenommen. Vor allem weil rascher geteilt wird, als darüber kurz nachzudenken.
Der Fortschritt hat uns über viele Probleme hinweggetäuscht, die die Krise nun auch verschärft zeig, sei es in der Altenpflege oder beim Klimawandel. Was können wir diesbezüglich von diesem Jahr mitnehmen?
Dass unsere Gesellschaft deutlich verletzlicher ist, als wir angenommen haben. Und zwar auch in Österreich, wo wir einen so hohen Lebensstandard haben. Und dann kommt ein winziges Virus, und man muss zur Kenntnis nehmen, dass es die gesamte Weltordnung von heute auf morgen komplett auf den Kopf stellt. Das erzeugt klarerweise eine kollektive Verunsicherung. Und manche trifft es auch strukturell bedingt härter als andere. Nicht nur unsere Gesellschaft, auch das Virus kennt keine Gerechtigkeit. Pandemien hat die Menschheit schon früher erleben müssen, wie etwa die Spanische Grippe. Allerdings sind wir heute in einer so hoch technischen Welt, wo die globale Verbreitung praktisch kaum zu bremsen ist. Gleichzeitig haben wir in einem Dreivierteljahr eine Impfung entwickelt. Die Wurzel dieser Problematik liegt in der Art, wie wir mit unserer Umwelt umgehen: Raubbau an der Natur und der Störung des ökologischen Gleichgewichts durch brutales, ungebremstes Vordringen in die letzten "funktionierenden" Ökosysteme. Darin liegt eigentlich der Ursprung fast aller aktuellen Krisen.
Unsere rücksichtslose Art bleibt nicht ohne negative Folgen für uns selber.
Das thematisiert auch Ihr Buch mit der Frage "Sind wir noch zu retten?", das sich mit Bereichen der Umwelthygiene von Plastik bis zu Feinstaub beschäftigt, also mit Belastungen, die wir durch unsere Lebensweise in Kauf nehmen - und sogar selbst herbeiführen. Haben wir die Augen zu lange vor Kollateralschäden verschlossen?
Wenn man bedenkt, dass die erste internationale wissenschaftliche Konferenz, die auf die Bedeutung des anthropogenen Einflusses auf das Klima deutlich hinwies, bereits 1985 stattfand, dann hat es eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis die Dringlichkeit dieses Themas endlich in der Öffentlichkeit angekommen ist. Einige haben es früher begriffen als die anderen, aber für viele ist die Klimakrise tatsächlich erst mit der breitenwirksamen "Fridays for Future"-Bewegung zu einem gesellschaftspolitischen Anliegen geworden.
Was können wir dazu beitragen, dass wir nicht sofort in die nächste Pandemie schlittern?
Es geht darum, jene zivilisatorischen Eingriffe zu stoppen, die das Auftreten weiterer Epidemien erhöhen. Dazu zählen übermäßige Landnutzung, immer mehr Monokulturen und Waldrodungen. Der daraus resultierende Biodiversitätsverlust steigert auch das Verbreitungsrisiko von Infektionserkrankungen. Um dieser Epidemiegefahr zu begegnen, braucht es politisches Commitment für eine natur- und umweltverträglichere Form des Wirtschaftens. Die Folgen unserer rücksichtslosen Art, wie wir mit Natur und Umwelt umgehen, bleiben nicht ohne negative Folgen für uns selber. Jetzt ist es eine Pandemie, gleichzeitig sind es global dahinschmelzende Gletscher, Hitzewellen mit Dürren oder Überschwemmungen bis hin zu Unmengen von Plastik in den Weltmeeren. Manche Verluste und Schäden sind auch nicht mehr rückgängig zu machen - jedenfalls was die nächsten Generationen angeht. Wir können nur weitere Fehlentwicklungen verhindern oder die Folgen etwas abmildern.
Eine Immunisierung gegen Fake News.
Was ist am Bioplastiksackerl wirklich bio? Wie viel Mikroplastik trägt man mit Lippenstift auf? Sind Weichmacher hormonschädigend? Wie kann man sich zu diesen umweltmedizinischen Fragen eine Meinung bilden, ohne Alltagsmythen aufzusitzen?
Unser Buch soll genau diesen Link liefern. Wir versuchen, die wesentlichen Eckpfeiler der jeweiligen Problematik so darzustellen, dass es für die interessierte Öffentlichkeit verständlich ist und Handlungsoptionen aufzeigt. Der Ansatz war, diese Themen anhand von Fragen, die sich im Alltag stellen, abzuarbeiten. Wir wollten ein lebhafteres Sachbuch, nahe am praktischen Leben, das zum Weiterdenken anregt. Dadurch ist man auch quasi immunisiert gegen Fake News.
Jedes Kapitel schließt mit einer To-do-Liste, etwa wie man Plastik im Alltag vermeidet. Was setzen Sie als Umweltmediziner und Vater selbst davon um?
Wenn man alles von Anfang an hundertprozentig richtig machen möchte, ist die Gefahr groß, dass man frustriert scheitert. Es geht daher um kleine Schritte. Es geht darum, neue Verhaltensweisen zu erproben und einiges davon dann idealerweise langfristig im Alltag zu verankern. Bewusster einzukaufen, vielleicht auch gerade bei Kindern von Anfang an auf die Ernährung zu achten. In den ersten Jahren wird sehr viel abgespeichert, was späteres Gesundheitsverhalten betrifft. Unser Sohn isst Obst und Gemüse wirklich gerne. Dass das nicht selbstverständlich ist, merke ich, wenn wir zu anderen Kindern kommen und er als Einziger nach Paprika oder Gurke verlangt.
Ein Großteil der Generation Z agiert ja schon extrem umweltbewusst und achtsam, während die ältere Generation gerne dahin argumentiert, dass noch keiner an ungewaschenem Obst gestorben ist ...
Zwischen langer Lebenserwartung, Wohlfühlen und Ein-beschwerdefreies-Leben-Führen ist doch ein großer Unterschied. Es ist nicht nur die bloße Lebenserwartung allein, sondern es geht um eine hohe Lebensqualität und Zufriedenheit. Und nebenbei geht es vielleicht auch nicht nur immer um die eigene Gesundheit, sondern auch um die derjenigen, die unsere Lebensmittel und Alltagsprodukte erzeugen. Und darauf haben wir durch unser Konsumverhalten durchaus großen Einfluss.
Gut zureden und medizinische Erklärungen reichen nicht, um Verhaltensweisen zu ändern.
Das Buch ist in acht Themenblöcke gegliedert, von Plastik bis zu Pestiziden. Was von alldem bereitet Ihnen wirklich Bauchweh?
Ganz klar: Es dauert alles sehr lange, bis umgedacht und umgesetzt wird. Das ist schon mühsam und manchmal frustrierend, wenn es oft mehr als 50 Jahre braucht, bis sich was tut. Ich habe während meines Anatomie-Sezierkurses aus einer natürlichen Regung heraus aufgehört, Wurst und Fleisch zu konsumieren. In jedem Wiener Wirtshaus galt damals, Mitte der 80er, ein Vegetarier einfach als Beilagenesser. Da hat sich inzwischen viel geändert. Heute weiß man über Lacto-Vegetarier bis hin zu Fructariern oder Flexitariern Bescheid.
Und man kontrolliert auch, ob Aluminium im Deo ist, kauft Bioprodukte oder Design aus recyceltem Meeresplastik. Der grüne Lifestyle ist ja mittlerweile auch chic geworden.
Wenn irgendwas heute nicht hip ist, wird es schwierig sein, das an die Frau oder den Mann zu bringen. Stichwort E-Bike. Coole Räder haben auch die Einstellung zum Fahrradfahren verändert. Da steht immer Marketing dahinter. Gut zureden und medizinische Erklärungen allein sind nicht ausreichend, um Verhaltensweisen ändern zu können. Man muss auch eine ansprechende Sprache finden.
Die Nachteile der Digitalisierung werden eher unter den Teppich gekehrt.
Auch Elektrosmog und Handystrahlung werden von Ihnen als Mediziner thematisiert. In Homeoffice-Zeiten nicht unwesentlich, wo viele mehrere Computer zu Hause haben, vielfach mit dem Handy am Nachtisch schlafen. Wie halten Sie das?
Ich habe kein Smartphone, ganz bewusst, denn sonst würde ich noch mehr am Arbeiten sein. Ich telefoniere immer mit Freisprecheinrichtung, eine einfache empfohlene Vorsorgemaßnahme. Das Telefon liegt natürlich nicht neben dem Kopfpolster. WLAN wird in der Nacht ab- und der Stand-by-Modus bei Geräten ausgeschaltet oder der Stecker gezogen. Ich war auch ein Handy-Spätuser und habe nur Festnetz und Telefonhütteln benutzt. Das Sichfestlegen auf einen Termin hat mit den Handys enorm gelitten. Jeder kennt das: Man kann alles kurzfristig in zig weiteren Telefonaten abändern. Alles verlorene Zeit. Summa summarum hat die Digitalisierung natürlich enorme Vorteile. Die werden auch entsprechend betont, während die Nachteile eher unter den Teppich gekehrt werden. Die ständige Erreichbarkeit, die höhere Abhängigkeit von Kindern und Jugendlichen von digitalen Medien, die durch die Corona-Krise getriggert wurde, sind sicher Problemfelder, mit denen wir uns in den nächsten Jahren stärker auseinandersetzen müssen.
Zumindest was die Klimakrise betrifft, war Corona ein kurzer Lichtblick. Was wird davon bleiben?
Unnötige Geschäftsreisen werden nun sicher genauer überdacht werden. Andererseits wird für viele klimagerechte Maßnahmen nun wieder weniger Geld verfügbar sein, weil der Arbeitsplatz wichtiger ist. Das kann man zwar verstehen, das darf aber kein Totschlagargument sein, um gewisse Errungenschaften, was den Umwelt- und Naturschutz anlangt, wieder zu lockern.
Und wie kommt der leidenschaftliche Surfer Hutter zu den besten Stränden weltweit?
Wenn man zu den Surfspots dieser Welt möchte, ist eine Flugreise faktisch unvermeidbar. Das ist immer eine Sache, die mein Klimagewissen zum Knirschen bringt. Selbst wenn ich ohne Auto lebe, mit dem Fahrrad meine täglichen Wege erledige, ist es ein Minus in meiner Bilanz. Ich versuche, mich einzuschränken. Die stehende Welle in Ebensee ist schon eine coole Alternative und Gott sei Dank ist Skateboarden im Pool um die Ecke möglich.
Man müsste schon längst Migration im Kontext des Klimawandels politisch stärker aktiv angehen.
Die Covid-Krise hat auch gezeigt, dass Politiker durchaus fähig sind, unbequeme Entscheidungen zu treffen. Nun stellt sich die Frage, ob sie das auch in Bezug auf die Klimakrise tun werden oder sich gerade jetzt der Wirtschaft beugen werden?
Ich wünsche mir, dass energisch durchgegriffen wird. Aber es ist eher zu befürchten, dass tiefgreifende Entscheidungen, die es zur Bewältigung der Klimakrise braucht, weiterhin nachgereiht und aufgeschoben werden. Aber man muss klar sagen: Es bleibt uns hier kein Spielraum mehr. Für Hinhaltetaktiken ist es zu spät.
Die Zahl der Hitzetage wird sich bis zur Mitte des Jahrhunderts verdoppeln. Sie rechnen vor, dass wir im Jahr 2050 auch viele Millionen "Umweltflüchtlinge" aufgrund von Dürre oder massiven Überschwemmungen haben werden.
Darauf müssen wir uns auf jeden Fall vorbereiten beziehungsweise einstellen. Das Themenfeld Migration ist bekanntlich extrem sensibel und definitiv Zündstoff sozialer Konflikte. Weil sich die Dringlichkeit für Lösungen noch weiter erhöhen wird, müsste man schon längst Migration im Kontext des Klimawandels politisch stärker aktiv angehen. Eines ist sicher: Es stellt uns als Gesellschaft auf eine harte Probe.
Also: Sind wir noch zu retten?
Definitiv. Ich bin nach wie vor optimistisch. Immerhin geht es um unser aller Zukunft. Es muss klarerweise vieles in die Wege geleitet werden. Die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos. Wir selber haben es mehr in der Hand, als wir manchmal glauben
Das Buch

"Sind wir noch zu retten?" von Hans-Peter Hutter und Judith Langasch
SIND WIR NOCH ZU RETTEN? Plastik, Pestizide, Feinstaub & Co. - was sind die gefährlichsten Schadstoffe und wie sollen wir mit ihnen umgehen? Anhand von "most frequently asked questions" hat Umweltmediziner Hans-Peter Hutter gemeinsam mit der Journalistin Judith Langasch ein alltagsnahes Sachbuch erstellt.
- Orac Verlag
- Taschenbuch : 216 Seiten
- Buch hier beziehen
Zur Person
Hans-Peter Hutter, 57, studierte Medizin und Landschaftsökologie und ist seit 2015 stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin an der Medizinischen Universität Wien. Im Zentrum seiner Arbeit stehen wissenschaftlich fundierte Risikoabschätzungen.
Judith Langasch ist Journalistin beim ORF-Magazin „konkret“. Sie ist Preisträgerin des deutschen Verbraucherjournalistenpreises 2018 und des Förderpreises für Wissenschaftspublizistik 2020.
Das Interview ist dem trend.PREMIUM vom 12. März 2021 entnommen.