Wahl 2017: Ohne Rücksicht auf Verluste
Fünf Wochen vor der Wahl werden großzügige Versprechen gemacht und Wahlzuckerl verteilt - mit fatalen Folgen fürs Budget. Dagegen hilft laut Experten nur eines: maximale Transparenz.
Bernhard Felderer versteht die Welt nicht mehr. "Zum Haare raufen" sei das alles, schimpft der Präsident des Fiskalrates und sieht jahrzehntelange Errungenschaften des politischen Gefüges sich quasi auflösen: "Wir erleben Demokratieversagen."
Was den Ex-Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS) dermaßen erzürnt: die vielen publikums- und gleichzeitig budgetwirksamen Maßnahmen, die die Politik in den letzten Monaten getroffen hat. Angefangen beim " Pensionshunderter", der von der Regierung kurz vor Weihnachten 2016 in Erwartung eines baldigen Wahlgangs beschlossen wurde, über den - angesichts des Konjunkturhochs weitgehend überflüssigen - "Beschäftigungsbonus" bis hin zur Abschaffung des Pflegeregresses: Für Felderer reiht sich eine Unsinnigkeit an die nächste.
Gar nicht zu reden von den derzeit flink abgegebenen Wahlversprechen: Innerhalb weniger Tage hat die SPÖ Gratismundhygiene für Kinder und Jugendliche sowie den Gratisführerschein und das Gratisinternat für Lehrlinge propagiert. Die ÖVP wiederum kämpft um die verlorene Gunst der Hoteliers, indem sie in ihr Wahlprogramm die Senkung der Mehrwertsteuer auf Übernachtungen - von 13 Prozent auf zehn Prozent - geschrieben hat. Erst vor zwei Jahren hatte der ÖVP-Finanzminister als Gegenfinanzierung für eine Steuerreform ebendiese Steuer erhöht. Der Schritt wird dieses Jahr zumindest 200 Millionen Euro ins Budget spülen, auch weil die hervorragende Tourismuskonjunktur es offenbar erlaubt, die Mehrkosten weitgehend an die Gäste weiterzureichen.
Die Folgen all dieser Schnellschüsse fürs Budget sind markant: Die Abschaffung des Pflegeregresses und die höhere Anhebung von niedrigen Pensionen, vom Wahlvolk dankbar registriert, werden von nun an mit über 300 Millionen Euro pro Jahr zu Buche schlagen. Der Thinktank Agenda Austria rechnete bereits am 22. August vor, dass sich die im Wahlkampf summierten Versprechen inzwischen der Milliardengrenze nähern und auf 164 Euro pro Kopf belaufen, wobei die Experten auch den "Pensionshunderter" und die - noch nicht beschlossene - Finanzierung der Ganztagsschulen in ihre Kalkulation miteinschlossen.
Vesprechen und böse Erinnerungen
Andere Ökonomen setzen noch eine ganze Reihe weiterer politischer Großtaten der vergangenen Monate auf die Sündenliste: "Durchaus sinnvolle Einzelmaßnahmen werden zum Wahlzuckerl, wenn sie nicht seriös gegenfinanziert und in eine umfassende Gesamtreform eingebunden sind", meint etwa Wifo-Budgetexpertin Margit Schratzenstaller. "Vor der jüngst beschlossenen Anhebung der Forschungsprämie hätte es etwa eine ordentliche Evaluierung der Forschungsförderung gebraucht."
Böse Erinnerungen an den 24. September 2008 werden wach, als in der letzten Parlamentssitzung vor der Nationalratswahl Beschlüsse fielen, die seitdem mit 4,3 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche schlugen, von der Aufstockung der Familienbeihilfe bis zur Verlängerung der sogenannten "Hacklerregelung" bei den Pensionen. Viele dieser weitreichenden Geschenke mussten hinterher teilweise wieder zurückgenommen werden.
Schellings Beißhehmmung
Der oberste Hüter des Staatsbudgets, Finanzminister Hans Jörg Schelling, macht fünf Wochen vor dem Wahltermin eine erstaunlich gute Miene zu diesem bösen Spiel. Die bisher aufgelaufenen Kosten durch vorzeitige Wahlgeschenke hielten sich "in überschaubarem Rahmen", findet Schelling (siehe Interview in trend Nr. 36/2017; Seite 20). Dass ÖVP-Wirtschaftsminister Harald Mahrer zuletzt zusätzliches Geld für den Breitbandausbau gefordert hat und SPÖ-Bildungsministerin Sonja Hammerschmid 5.000 neue Lehrer einstellen will, gefällt ihm einmal mehr, einmal weniger. Doch natürlich müsse man sich "berechtigterweise" die Frage stellen, ob das alles "auch passieren würde, wenn wir nicht Wahlen hätten".
Wer keine Wahlkampf-Kreide geschluckt hat, kommentiert die Dinge dagegen mit deutlich aufgekratzterer Stimme. Der bereits vom Pensionsexperten Bernd Marin vehement gegeißelte Pflegeregress-Deal (trend 28-29/2017) ist etwa auch für Fiskalratspräsident Felderer mangels erkennbarer Einbettung in ein Gesamtkonzept verhängnisvoll: "Damit gehen die Anreize, selbst für die Pflege vorzusorgen, völlig verloren. Man zieht also den Staat heran, um das Erbe der Kinder zu finanzieren. Das ist Wahnsinn."
Die im August auffällig konsensual beschlossene Anhebung der Niedrigpensionen bis 1.500 Euro deutlich über das Mindestmaß hinaus, die mit Kosten von 111 Millionen Euro jährlich verbunden sein wird, kann Felderer prinzipiell nachvollziehen, doch der Zeitpunkt sei "schrecklich peinlich". Mit Blick auf die Wahlkämpfe in Frankreich und Deutschland hält er zwar fest, dass das Verteilen großzügiger Wahlgeschenke kein österreichisches Einzelphänomen ist. "Die langfristigen Auswirkungen werden uns aber da wie dort in Gefahr bringen." Vieles von dem, was jetzt beschlossen werde, müsse - ähnlich wie die berüchtigten Beschlüsse vom September 2008 - nach der Wahl wohl wieder rückgängig gemacht werden.
Die Stopp-Taste
Ökonomen und Budgetstrategen arbeiten seit Längerem daran, wie man den politischen Verlockungen in Wahlkampfzeiten begegnen könnte. Agenda-Austria-Ökonomin Monika Köppl-Turyna plädiert etwa klar für eine stärkere Offenlegung: "Gegen Wahlzuckerl helfen klare Fiskalregeln wie etwa bindende Schuldenbremsen, Transparenz in der Haushaltsplanung, direktdemokratische Mechanismen mit ausführlicher Information für die Wähler über die Kosten der 'Zuckerl' sowie transparente Medienberichterstattung über die Maßnahmen", die im Übrigen ein "weltweites Phänomen" seien.
Einen Beitrag von außen zu mehr Klarheit leistete soeben der deutsche Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher. Die in vielen Wahlprogrammen versprochenen deutlichen Steuersenkungen, so der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bei einem Besuch in Wien, seien "Wahlgeschenke mit Geldern, die langfristig eigentlich nicht da sind". Auf die alternden Gesellschaften und ihre Gesundheits- und Pensionssysteme kämen enorme Kosten zu, daher werde die Politik schon in wenigen Jahren gezwungen sein, die Steuersenkungen wieder rückgängig zu machen.
Die Budgetvernunft zugunsten eines Zuckerls für eine bestimmte Klientel sausen zu lassen, wird wohl immer reizvoll für die Politik sein. Daher appelliert Wifo-Expertin Schratzenstaller an die Verantwortlichen: "Fassen wir jetzt vor den Wahlen keine Beschlüsse mehr. Und in den Wahlprogrammen sollte im Detail dargelegt werden, wie man Vorschläge, von der Steuersenkung bis zum Kinderbonus, gegenfinanzieren will."
Die bereits verteilten und möglichen Wahlzuckerl im Überblick
- 200 Millionen Euro kostet die Abschaffung des Pflegeregresses jährlich. Unklar ist, wie diese Mehrkosten gegenfinanziert werden sollen.
- 111 Millionen Euro kostet die im August beschlossene Anhebung der Niedrigpensionen bis 1.500 Euro um 2,2 statt um 1,6 Prozent.
- 200 Millionen Euro fehlen im Budget, wenn die Mehrwertsteuer auf Übernachtungen von 13 Prozent wieder auf zehn Prozent gesenkt wird.
- 56 Millionen Euro würde nach Berechnungen der Neos der Gratisführerschein für Lehrlinge kosten, den die SPÖ ins Spiel gebracht hat.