Die Tea-Time nach dem Brexit-Referendum
Bis heute waren hohe EU-Vertreter geschlossen gegen den Brexit. Jetzt kann es ihnen nicht mehr schnell genug gehen. Der prominente Leave-Aktivist Boris Johnson sieht hingegen keinen Grund zur Eile mehr. Die Folge: Bis zum Brexit wird es dauern.

Verkehrte Welt: Noch vor wenigen Stunden traten die europäischen Spitzenpolitiker in Brüssel geschlossen gegen einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union auf, während der frühere Londoner Bürgermeister und prominenteste Leave-Aktivist Boris Johnson unermüdlich für den Abschied warb. Nachdem sich die Briten für den Brexit entschieden haben, ist nun aber alles anders. EU-Spitzen fordern eine möglichst schnelle Trennung, Johnson will sich Zeit lassen.
“Wir erwarten, dass die britische Regierung den Volksentscheid so schnell wie möglich umsetzt”, heißt es in der gemeinsamen Erklärung von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Parlamentspräsident Martin Schulz und Ratspräsident Donald Tusk. Dazu müssten die Briten in einer rechtlich nicht näher definierten Erklärung ihren Austrittswillen bekunden – so steht es im viel zitierten Artikel 50 des Lissabon-Vertrags. Erst dann könnten die Details verhandelt werden, was ohnehin mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird.
Cameron übergibt Agenden an seinen Nachfolger
Doch Premier David Cameron hat angekündigt, schon diesen ersten Schritt seinem Nachfolger zu überlassen. Der muss erst gefunden und parteiintern gewählt werden, was zumindest bis Oktober dauern wird. Dann könnten auch noch Neuwahlen im November folgen, mit all ihrer politischen Unsicherheit. Und einer der größten Favoriten für den Job ist derselbe Boris Johnson, der heute keinen Grund zur Eile sieht.
Für Ökonomen ist die Verzögerungstaktik aus britischer Sicht durchaus nachvollziehbar, vor allem um den wirtschaftlichen Schock abzufedern (siehe Interview mit Hosuk Lee-Makiyama). Auch der Internationale Währungsfonds plädiert für einen „sanften Übergang“. Und schließlich ist der Zeitpunkt des Austritts auch der einzige Verhandlungschip, den Großbritannien für einen Deal mit der Europäischen Union noch hat.
„Verlängerung der britischen Erpressungstaktik“
Denn für die EU ist die derzeitige Situation ein Worst-Case-Szenario. Hinter vorgehaltener Hand spricht macht in Brüssel denn auch von einer „Verlängerung der britischen Erpressungstaktik“. Das Problem: Solange es keine Absichtserklärung gibt, ist grundsätzlich alles möglich. Das Brexit-Referendum ist für Parlament und Regierung rechtlich nicht bindend, theoretisch ist damit nicht einmal der Ausstieg fix. Stattdessen könnte irgendwann erneut abgestimmt oder die Entscheidung einfach ignoriert werden – etwa von einer neuen Regierung.
So werden Ressourcen gebunden, die der mit vielen Krisen beschäftigten Union fehlen und eine ohnehin unglückliche Situation in die Länge gezogen. Im EU-Parlament kursiert daher der Vorschlag, bereits das Referendum als Absichtsbekundung nach Artikel 50 anzuerkennen. Doch wegen dessen unverbindlichen Charakters halten Experten und EU-Beamte diesen Schritt für wenig aussichtsreich. Ein erzwungener Abschied ist in dem sehr allgemein gehaltenen Artikel 50 schlicht nicht vorgesehen.
Bis zur Absichtserklärung ist Großbritannien jedenfalls ein ganz normales Mitglied. „Mit allen Rechten und Pflicht“, so Kommissionschef Juncker. Darunter etwa auch die Möglichkeit, über Richtlinien abzustimmen, die das Europa der nächsten Jahrzehnte prägen werden. Von denen Großbritannien selbst dann aber gar nicht mehr betroffen sein wird. Auch das will das EU-Parlament verhindern. Auch dafür braucht es aber die Zustimmung der Briten.