Politik Backstage: Kurz will sich neu erfinden

Gestern blau, heute grün – wie der ÖVP-Kanzler vom rasanten Partnerwechsel profitieren will. Und warum er nicht an Blockade und Stillstand trotz gegensätzlicher Herkunft glaubt.

Thema: Politik Backstage von Josef Votzi
Politik Backstage: Kurz will sich neu erfinden

Morgens um sechs. Bäckereibesuch der Regierungsspitze: harmonisch wie einst mit den Blauen.

Geradezu schulbuchartig haben sich Österreichs neue Koalitionäre medial präsentiert“, resümierte dieser Tage der Korrespondent der deutschen ARD in Wien. Clemens Verenkotte ist ein guter Kronzeuge für eine erste Bilanz des Kabinetts K & K, weil er noch einen unvoreingenommenen Blick von außen hat. Verenkotte berichtete bis vor Kurzem für den deutschen Sender aus Bonn, Berlin, Washington und Tel Aviv.

Als er im September 2017 seine Zelte in Wien aufschlug, startete Sebastian Kurz gerade zu seinem ersten Wahlkampf als ÖVP-Chef. Eine Woche vor Weihnachten 2017 präsentierte sich das erste türkis-blaue Kabinett. Noch vor dem Dreikönigstag 2018 machten Kurz und Strache bei ihrer ersten Regierungsklausur im steirischen Seggau auf Nonstop-Honeymoon.

Zwei Jahre danach ein diametral anderer Partner, aber die gleichen Bilder: Der türkise Kanzler mit seinem grünen Vize auf Blitzvisite im Pflegeheim, tags darauf in einem Brennpunkt-Wachzimmer am Wiener Westbahnhof, dann in einer Bäckerei und kommende Woche das gleiche Zeichen kollektiver Anstrengung: Ende Jänner geht in Krems die erste Regierungsklausur über die Medienbühne. ARD-Journalist Verenkotte: „Konsens trotz aller parteipolitischen Gegensätze scheint auch unter Türkis-Grün das Motto zu sein.“

Gestern fast unzertrennlich mit dem blauen Urgestein Heinz-Christian Strache, heute in trauter Eintracht mit dem Retter der Grünen, Werner Kogler. Bis vor Kurzem im Gleichschritt mit dem skrupellosen Herbert Kickl, heute Seite an Seite mit dem samtpfötigen Rudolf Anschober.

Wie bringt das Sebastian Kurz auf die Reihe – und was macht das mit ihm und damit auch mit dem ganzen Land? Ist der 33-Jährige nach einem Jahrzehnt als Berufspolitiker derart abgebrüht, dass es ihm längst einerlei ist, wer unter ihm Vizekanzler ist – wie seine Gegner von Anfang an vermuteten? Oder hat er mit seiner ersten politischen Partnerwahl schlicht Pech gehabt und macht im zweiten Anlauf nur nach außen alles gleich, nach innen diesmal aber vieles ganz anders – wie langjährige Vertraute verbreiten? Will sich Sebastian Kurz also tatsächlich neu erfinden – und wenn ja, wie?

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Drahtesel statt Polizeiross.


Wer diesen Fragen ernsthaft gerecht werden will, muss schon tiefer bohren, als in gängigen Klischees herumzustochern.

Fakt in Sachen Türkis-Blau ist: Hinter den Kulissen der vorgeblich harmonischen Koalitionsehe ging es schon vom Start weg rund. Heinz-Christian Strache kam ob des Tempos und des Drucks von Opposition, Medien, aber auch der Kickl-Fraktion in der eigenen Partei („du darfst dir von Kurz nicht so viel gefallen lassen“) bis zuletzt nicht in die Gänge. Ergebnis: Strache wurde immer nervöser und setzte nächtens empörte SMS an Kurz & Co an, wo er sich wieder übergangen fühle. „Der Strache war ein Schüssler“, so ein Kurz-Vertrauter. In den Augen der ÖVP wurde der FPÖ-Chef immer mehr zum fahrigen Problembären statt zum verlässlichen Partner. Viele Türkise berichten mittlerweile offenherzig über den nervenaufreibenden Beziehungsalltag mit Strache und Kickl.

Offen bleibt, wie lange Kurz ohne den blauen Super-GAU auf Ibiza „vieles heruntergeschluckt“ hätte, um die Blauen bei der Stange zu halten. Statt einer schlüssigen Antwort kommt eine Gegenfrage aus dem Populisten-Handbuch: „Die Regierung war ja bei den Leuten sehr beliebt, wie hätten wir ein Aus denn begründen sollen?“

Während schwarze Landeshauptleute am Tag nach dem Ibiza-Video im Bundeskanzleramt höchst widersprüchliche Stimmungsbilder und Empfehlungen einmeldeten, setzte sich bei Kurz & Co in den wenigen Stunden, die für eine Entscheidung blieben, die Gewissheit fest: So eine Gelegenheit, mit der immer lästiger werdenden FPÖ zu brechen und auch noch breiten Applaus zu bekommen, kommt nie wieder. Auch im Kurz-Team wird das so nicht bestritten: Ohne Ibiza würde Herbert Kickl heute noch hoch zu Polizeiross ausreiten.


Kurz achtet wie ein Haftelmacher darauf, nicht wie einst Wolfgang Schüssel als kalter Kanzler dazustehen.


Der fliegende Wechsel zu den Grünen, die lieber auf dem Drahtesel daherkommen, war für Kurz freilich beschwerlicher, als es den Anschein hat. Zwischen der türkisen Millennials-Truppe rund um Kurz und der grünen Post-68er-Generation rund um Kogler liegen Welten.

Öko-Fundis in Birkenschlapfen und mit Jutesäcken sind Kurz genauso ein Gräuel wie Political Correctness. Intern machte, wie in dieser Kolumne gleich nach den Wahlen Anfang Oktober vergangenen Jahres beschrieben, vor allem Kurz' Politdenker Stefan Steiner für die Grünen mobil. Der Anfangvierziger war bereits in der Ära Schüssel ein Anhänger eines schwarz-grünen Bündnisses und trauerte als enger Vertrauter des Schüssel-Nachnachfolgers Sepp Pröll lange der verlorenen Chance nach.

Aber noch Anfang der zweiten Dezemberhälfte sagte Kurz Journalisten unter vier Augen, dass es mit den Grünen nun doch nichts zu werden drohe. Das war nicht reine Taktik - in der Hoffnung, die Botschaft würde bei den Grünen landen. Hätte Norbert Hofer mehr klare Signale gesetzt, dass er und nicht Kickl der wahre FPÖ-Chef sei, hätte Kurz auch eine zweite Chance für Türkis-Blau ernsthaft ausgelotet. Zumal es auch bei Bauern- und Wirtschaftsvertretern in der ÖVP bis zuletzt starke Einwände gegen ein Bündnis mit einer Partei gab, in der sich radikale Tierschützer und unverbesserliche Autogegner zu Hause fühlen.

Weil die persönlich sehr gute Chemie zwischen Sebastian Kurz und Werner Kogler half, viele Klippen zu nehmen, blieb es schlussendlich doch bei der Koalition mit den Grünen.

Wie kann das hehre Regierungsmotto "Das Beste aus beiden Welten" aber im hindernisreichen Alltag funktionieren? Das kann bei Klimaschutz mit türkiser Handbremse und Asylpolitik mit grünen Zwischenrufen vielleicht gut gehen, aber bedeutet das nicht Stillstand und Blockade bei allen anderen Themen wie in unseligen rot-schwarzen Zeiten?

Bei den Grünen glaubt man an "Wandel durch Annäherung" - selbstredend vor allem an einen Wandel im Weltbild der Türkisen. In den schwarz-grünen Regierungen im Westen würden etwa in der lange höchst umstrittenen Transitfrage ÖVP und Grüne längst mit einer Zunge sprechen. Im Lager von Kurz setzt man auf das tägliche Rendezvous der Grünen mit der Realität, also auch auf Wandel durch Annäherung - selbstredend vor allem im Weltbild der Grünen.

Sebastian Kurz setzt zudem vor allem auf den erhofften nachhaltigen Charme einer Koalition neuen Stils - jeder glänzt auf seinem Spielfeld, statt in faulen Kompromissen zu verwelken.


Mitte-rechts-Kurs mit sozialen Blinklichtern.


Rechts der ÖVP, gab Kurz parteiintern als Order aus, soll so freilich weniger Platz denn je sein. Daher das Beharren auf dem hartem Migrationskurs, der Sicherungshaft und strengeren Zumutbarkeitsregeln für arbeitslose Asylwerber.

Kurz achtet aber gleichzeitig wie ein Haftelmacher darauf, nicht - wie einst Wolfgang Schüssel - als kalter Kanzler dazustehen.

Wenn Kogler davon mitprofitiert, ist ihm das mehr als nur recht.

Von diesem Mitte-rechts-Kurs mit sozialen Blinklichtern sollen, so die türkise Denke, am Ende beide Parteien profitieren -und die gemeinsame Mehrheit von 51 Prozent deutlich ausbauen.

Daher wird der befristete Höchststeuersatz von 55 Prozent für Jahreseinkommen über eine Million Euro nun doch verlängert. Die erste Runde der Steuersenkungen startet bei den niedrigsten Einkommen. Die heiße Kartoffel Mindestsicherung wird nach erfolgreichen Einsprüchen beim Verfassungsgerichtshof kommentarlos an die Länder zurückgereicht.

Eine überfällige Debatte über die Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters will der ÖVP-Kanzler entgegen früheren vollmundigen Bekenntnissen als JVP-Chef weiter wie der Teufel das Weihwasser meiden. Ergebnis ist also in Sachen langfristige Reformen, wie Industriellenvereinigungs-Präsident Georg Kapsch jüngst enttäuscht befand, "ein relativ biederes Regierungsprogramm".

Das ist Kurz nicht wegen Türkis-Grün passiert, sondern Strategie.

Als noch vor dem Wahlkampf 2019 das Megathema Pflegeversicherung aufkam, tat Kurz in kleiner Runde kund, wie simpel er in heiklen, weil unpopulären sozialen Fragen tickt: "Vom Programm her müssten wir als ÖVP für eine Pflegeversicherung eintreten, wo jeder selber aus eigener Tasche fürs Alter vorsorgt. Das ist in Österreich aber nicht durchzusetzen."

Das Kabinett Kurz & Kogler will nun mit der lange angekündigten Pflegeversicherung ernst machen. Ein hochtrabendes Wort für einen schlichten Vorgang: Im Budget werden zusätzliche Milliarden für die Finanzierung der privaten und öffentlichen Pflegekosten reserviert.

Der politische Heißsporn Sebastian Kurz von gestern hätte das als JVP-Chef noch als Etikettenschwindel angeprangert: Eine simple Budgeterhöhung werde als Reform verkauft.

Der Sebastian Kurz von 2020 hat eine andere Mission: Er will sich neu erfinden, um links und rechts von Türkis- Grün bei der nächsten Wahl so wenig Platz wie möglich zu lassen.


Der Autor

Josef Votzi

Josef Votzi

Josef Votzi ist einer der renommiertesten Politikjournalisten des Landes. Der Enthüller der Affäre Groër arbeitete für profil und News und war zuletzt Politik- und Sonntagschef des "Kurier". Für den trend beleuchtet er wöchentlich Österreichs Politik.

Thema: Politik Backstage von Josef Votzi



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