Nach Wahldebakel: May erhält von Queen Regierungsauftrag
Rückschlag statt Rückenwind: Die britische Premierministerin Theresa May steht nach der von ihr gewünschten Neuwahl vor einem Scherbenhaufen. Statt einer klaren Mehrheit hat sie die Wahlen haushoch verloren. Das klare Mandat mit einer satten Parlamentsmehrheit für die Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union ist dahin. May wird nach dem Wahldebakel nicht zurücktreten. Sie erhielt am Freitag von Queen Elisabeth II. den Auftrag eine neue Regierung zu bilden. Die Brexit-Gespräche werden am 19. Juni starten.
Verzockt: Das Wahlergebnis ist für Theresa May ein "total desaster" - aber immerhin: Sie darf wieder eine neue Regierung bilden.
London. Die Briten haben der Politik von Theresa May hat eine klare Absage erteilt. Ähnlich wie ihr Vorgänger David Cameron beim Brexit-Referendum im Mai 2016 hat sich auch Theresa May gründlich verzockt. Die konservative Partei hat die absolute Mehrheit von 326 Sitzen klar verfehlt und ist weit unter den selbst gesteckten Zielen geblieben. Trotz des Wahldesasters hat Premierministerin May am Freitagvormittag angekündigt, eine neue Regierung bilden zu wollen. Von Rücktritt, wie er von ihrem Widersacher Jeremy Corbyn gefordert hatte, will May derzeit nichts wissen.
Premierministerin May hat sich am frühen Nachmittag in den Buckingham-Palast zu Königin Elizabeth II. begeben, um formell den Auftrag für die Bildung einer neuen Regierung zu bitten. May strebt nun eine konservative Minderheitsregierung mit Duldung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) an. Die DUP-Parteichefin Arlene Foster will die Verhandlungen mit den britischen Konservativen über eine neue Regierung nicht überstürzen. "Ich denke, es wird sicher Kontakt über das Wochenende geben, aber ich denke, es ist zu früh, um darüber zu sprechen, was wir tun werden", sagte Foster am Freitag.
Nachdem May von Queen Elizabeth II. den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat, erklärte die Premierministerin ihre Absicht mit der DUP eine Koalition zu bilden. "Wir werden weiterhin mit unseren Freunden und Partnern, besonders in der DUP, zusammenarbeiten", sagte May am Freitag in einer Ansprache vor dem Regierungssitz Downing Street. Die Regierung werde "Gewissheit" bringen und das Land durch die Brexit-Verhandlungen führen, die in zehn Tagen begännen. Am 19. Juni sollen die Brexit-Verhandlungen starten.
Das Wahldesaster für Theresa May
Nach Auszählung der 650 Wahlkreise (Freitag 12:30 Uhr MEZ) fehlen den Tories 10 Sitze auf eine eigene Mehrheit im britischen Unterhaus ("House of Commons"). Die Konservativen kommen nur auf 316 Mandate und verlieren 12 Mandate. Die oppositionelle Labour Party kommt auf 261 und konnte mit dem Zugewinn von 31 Mandaten kräftig zulegen. Die Schottische Nationalpartei (SNP) kommt nur noch auf 35 Mandate und hat somit 19 Mandate verloren. Die Liberaldemokraten zählen auch zu den Wahlsiegern und können drei Mandate hinzugewinnen auf 12 Sitze. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) hat zwei Mandate hinzugewonnen und hält nun bei zehn Sitzen.
Die EU-Feinde von UKIP haben sich nach ihrem Wahlerfolg von 2015 und dem folgenden Brexit sich quasi abgeschafft. Der Partei sind die Wähler davongelaufen. Nach 12,6 Prozent der Stimmen im Jahr 2015 votierten nur noch 1,9 Prozent der Briten für die EU-feindliche Partei. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts war 2015 nur ein UKIP-Abgeordneter ins Unterhaus eingezogen. Die UKIP hatte keinen einzigen Wahlkreis gewinnen können und geht nun leer aus. UKIP-Chefs Paul Nuttall, der in seinem Wahlkreis dritter wurde, ist nach seinem Wahldesaster am Freitag zurückgetreten. Ex-UKIP-Chef Nigel Farage und einst Chef der Partei und Anti-EU-Kampagnenchef, kündigte unterdessen eine mögliche Rückkehr in die Politik an.

May soll bereits in der Nacht zum Freitag angekündigt haben, keinesfalls zurücktreten zu wollen.
Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour Party hatte May aufgefordert, ihren Posten zu räumen. Auch die konservative Abgeordnete Anna Soubry stellte Mays Führungsanspruch infrage. Sie solle Verantwortung für das "fürchterliche Wahlergebnis" übernehmen, sagte Soubry. Ex-Finanzminister George Osborne hatte vorausgesagt, May werde politisch kaum überleben, sollte sie ein schlechteres Ergebnis einfahren als bei der vergangenen Wahl.
Labour will regieren
Die Labour-Party wittert Morgenluft und will nun sogar Regierungsverantwortung übernehmen. Der finanzpolitische Sprecher der Labour Party, John McDonnell, hat eine Koalition mit den Konservativen ausgeschlossen. Die Partei habe vor, eine Minderheitsregierung zu bilden, sagte er am Freitag in London.
Die Konservativen von Premierministerin Theresa May haben ihre absolute Mehrheit bei der Wahl zum Unterhaus verloren, sind aber stärkste Partei. Damit hat May das Recht, als erste die Möglichkeiten für eine Regierungsbildung auszuloten. Dies könnte eine Koalition oder eine Minderheitsregierung der Tories sein.
Neues Brexit-Votum gefordert
Der Chef der britischen Liberaldemokratischen Partei, Tim Farron, hält ein zweites Brexit-Referendum für nicht mehr ausgeschlossen. Die Argumente dafür würden nach der Wahlschlappe der konservativen Premierministerin May stärker, sagte Farron am Freitag in London. Zugleich sprach er sich dafür aus, die Gespräche zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union über den Austritt auszusetzen. Formell sollen die Verhandlungen am 19. Juni aufgenommen werden. Der Austritt ist für März 2019 vorgesehen. Angesichts der unklaren Lage in London nach der Unterhauswahl steht der Zeitplan aber infrage.
Die Chefin der schottischen Nationalisten, Nicola Sturgeon, kündigte an, alles dafür zu tun, damit Schottland und das Vereinigte Königreich im EU-Binnenmarkt verblieben. Die Pläne der Konservativen, auch einen sogenannten harten Brexit ohne Abkommen mit der EU durchzusetzen, müssten aufgegeben werden. Zugleich sagte Sturgeon, sie werde mit anderen Parteien zusammenarbeiten, um die Konservativen von der Macht fernzuhalten.
So geht es jetzt - 5 Szenarien
1. Premierministerin May (oder auch ein möglicher Nachfolger an der Spitze der Konservativen) muss für ihre Partei eine Mehrheit organisieren. Entweder über eine formale Koalition oder über einen "Deal" mit anderen Parteien, etwa der nordirischen DUP, die eine konservativ geführte Minderheitsregierung unterstützen würden.
2. Die Zusammenarbeit von Tories und DUP gilt aktuell als wahrscheinlichste Option. Rein rechnerisch braucht eine Regierung mindestens 326 der 650 Sitze im Parlament. In der Praxis sieht das aber anders aus. Die nordirisch-republikanische Sinn Fein hat sieben Sitze gewonnen, schickt jedoch traditionell keine Abgeordneten nach London. Also reichen schon weniger Mandate als die genaue Hälfte der Sitze für eine "Arbeits-Mehrheit" aus. Eine Möglichkeit wäre auch, für jede Abstimmung einzeln eine Mehrheit zu organisieren.
3. Wenn May keine Chance auf eine Regierung unter ihrer Führung sieht, geht sie zu Königin Elizabeth II. und reicht dort ihren Rücktritt ein. In diesem Fall dürfte die Queen Oppositionsführer Jeremy Corbyn auffordern, mit seiner Labour Party eine Regierungsbildung zu versuchen und ein Regierungsprogramm zu zimmern.
4. Die Queen mischt sich in all das übrigens nicht ein, sie ist politisch neutral. Egal, von wem es am Ende kommt: Das Regierungsprogramm liest die Königin als Staatsoberhaupt in der sogenannten Queen's Speech vor. Geplant ist das bisher für den 19. Juni. Es folgt eine rund fünf Tage dauernde Debatte darüber im Unterhaus. Dann wird abgestimmt - hierbei handelt es sich de facto um eine Vertrauenserklärung für die neue Regierung, also die Nagelprobe.
5. Sollte sie scheitern, hätte die Gegenseite das Recht auf den nächsten Versuch. Die Abstimmung gilt aber als reine Formsache, weil die Mehrheiten vorher feststehen sollten. Kann sich also niemand sicher sein, ein Regierungsprogramm durchs Parlament zu bekommen, dann müssen die Briten möglicherweise ein weiteres Mal wählen gehen.
Das Eigentor der Saison
Eine interessante, knappe Wahlanalyse hatte bereits Englands Ex-Fußballnationalspieler Gary Lineker über Twitter in den Nacht zum Freitag abgesetzt. Kurz und knapp analysierte er das Wahldesaster als das "Eigentor der Saison.
I think Theresa May has won own goal of the season.
— Gary Lineker (@GaryLineker) 8. Juni 2017
Canterbury wählte erstmals seit 99 Jahren Labour
Das Wahlergebnis in Großbritannien ist insgesamt eine Überraschung, aber in manchen Wahlkreisen ist es eine Sensation. Canterbury, die beschauliche südenglische Stadt mit der berühmten Kathedrale, hat Labour gewählt - und zwar laut BBC erstmals, seit der Wahlkreis 1918 geschaffen wurde.
Kandidatin Rosie Duffield gelang es, dem Konservativen Julian Brazier seinen für völlig sicher gehaltenen Sitz abzunehmen, den er seit 30 Jahren innehatte. Und das auch noch ganz knapp: Gerade einmal 187 Stimmen machten den Unterschied. Vorsichtshalber wurde in der Nacht auf Freitag zweimal ausgezählt, bevor um 4.23 Uhr Ortszeit das Ergebnis offiziell bekannt wurde.
Nach dem unklaren Ausgang der britischen Unterhauswahl wackelt nach Einschätzung der EU-Kommission der Termin für den Start der Brexit-Gespräche. Es sei nicht sicher, ob die Gespräche wie geplant am 19. Juni beginnen können, sagte der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger am Freitag dem Deutschlandfunk.
Der deutsche Christdemokrat erwartet nach der Wahl mehr Unsicherheit bei den Brexit-Verhandlungen. Bei einem schwachen britischen Verhandlungspartner bestehe das Risiko eines schlechten Ergebnisses, warnte Oettinger.
Harter Brexit abgewählt
Nach der Wahlschlappe der britischen Premierministerin Theresa May ist nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer eine Einigung mit Großbritannien bei den Brexit-Verhandlungen wahrscheinlicher geworden.
Zwar sei völlig offen, wie die nächste britische Regierung aussehen werde, auch Neuwahlen seien möglich, sagte Krämer am Freitag. "Aber eines ist sicher: Der harte Brexit wurde gestern abgewählt".
Trotz aller Unsicherheit herrsche zumindest Zuversicht, "dass der Kollisionskurs von May gestoppt werden kann - und zwar selbst für den Fall, dass es ihr gelingt, eine Regierung unter konservativer Führung zu bilden". Die EU habe starke wirtschaftliche Interessen, sich mit London am Ende zumindest auf eine Freihandelszone, möglicherweise auch auf eine Zollunion zu einigen.