Meinungsforscher: Viele haben von Brexit-Debatte schon genug
Seit Wochen wird in Großbritannien über die Vor- und Nachteile eines EU-Austritts diskutiert und gestritten. Mittlerweile haben viele Leute von der Debatte wohl genug, meint Roger Mortimore, Direktor für Politische Analyse beim Meinungsforschungsinstitut Ipsos MORI. Sie fühlten sich offenbar nicht gut genug informiert und hätten das Gefühl, von der Kampagne nicht das zu bekommen, was sie wollten.
Bei dem Referendum gehe es um ein "neues Thema". Es sei keine Parlamentswahl, bei der die meisten Menschen zumeist dieselbe Partei wählten, die Argumente bekannt seien und man wisse, wem man vertraue. "Hier haben wir eine Situation, in der einem jeder sagt, das ist wirklich wesentlich, das ist wirklich wichtig, und dann fragen die Leute na gut, was sind die Vorteile der einen Seite und der anderen Seite, und sie haben das Gefühl, dass ihnen niemand eine klare Antwort gibt. Denn niemand kennt die Zukunft. Wir streiten über die wirtschaftlichen Konsequenzen, darüber, ob wir Einwanderung stoppen können oder nicht, und eigentlich weiß das niemand."
Viele Menschen wüssten gerne mehr und würden gerne sicherstellen, dass sie die richtige Entscheidung träfen, meint Mortimore. "Aber sie sind sich nicht ganz sicher, was riskiere ich hier." Die Politiker selbst wüssten auch nicht so genau, was passieren werde. "Ich glaube nicht, dass auf irgendeiner Seite jemand unverhohlen lügt. Viele übertreiben oder nennen etwas als bekanntes Faktum, was eigentlich nur ihre Einschätzung ist." Gleichzeitig wüssten sie nicht, wie sie in dieser neuen Situation Wahlkampf betreiben sollten.
Schließlich handle es sich um eine Angelegenheit, die quer durch die politischen Parteien gehe. "Viele müssen Wähler ansprechen, die sie normalerweise nicht ansprechen müssen. Wir haben Konservative, die verzweifelt versuchen, die Stimmen der Arbeiterklasse zu bekommen, wir haben Labour, die versucht, vorübergehend nicht bedrohlich zu wirken und Mittelschichtswähler bei Laune zu halten", sagt Mortimore, der Professor am Londoner King's College ist. "Und sie scheinen zu dem Schluss gekommen zu sein, vor allem das Verbleib-Lager, dass in dieser Situation Angstmacherei, eine Negativkampagne am besten funktioniert."
"Schreckliche Dinge", "schlimme Ausländer"
So habe die Botschaft des Pro-EU-Lagers vor allem darin bestanden zu sagen: "Hier ist eine Liste der schrecklichen Dinge, die passieren werden, wenn wir austreten." Von der Brexit-Seite sei wiederum zu hören gewesen: "Da kommen alle diese schrecklichen Ausländer als Einwanderer, so können wir sie stoppen, stoppen wir sie jetzt, das kann nicht so weiter gehen." Auf beiden Seiten seien extreme Argumente vorgebracht worden - eine Vorgehensweise, vor der Politiker bei normalen Wahlen sehr auf der Hut seien. "Es ist nicht wirklich überraschend, dass die Wähler das nicht sehr mögen."
Ob die Taktik funktioniere, wisse man noch nicht, sagt Mortimore. Seine Vermutung sei jedoch, dass sie nicht so gut funktioniere wie gewünscht. Bei der Parlamentswahl im Vorjahr sei die Negativkampagne der Konservativen offensichtlich erfolgreich gewesen. Der Grund sei jedoch, dass es dabei nicht darum gegangen sei, neue Wähler zu gewinnen, sondern Wähler zu behalten. "Negativkampagnen dieser Art sind großartig dafür, Leute von etwas zu überzeugen, von dem sie glauben, es schon zu wissen."
Bei einem Wechselwähler dürfte das jedoch nicht so gut funktionieren: "Er ist nicht auf Ihrer Seite, er ist nicht auf der anderen Seite, und Sie beginnen ihn anzuschreien und zu versuchen ihn zu erschrecken. Das wird ihn viel eher vergraulen als ihn von der anderen Seite abzuschrecken." Er gehe daher davon aus, dass das "die falsche Taktik" für dieses Referendum sei, so Mortimore.
Schwierige Vorhersagen
Der Experte sieht eine gewisse Gefahr, dass manche Bürger aufgrund der Unzufriedenheit mit der Kampagne nicht wählen gehen werden. "Aber ich glaube, die meisten werden es wahrscheinlich trotzdem tun, denn sie haben das Gefühl, dass es wichtig ist."
Generell ist die Abstimmung am 23. Juni laut dem Meinungsforscher besonders schwer vorherzusagen. Referenden kommen in Großbritannien äußerst selten vor. Und erst im Vorjahr sind die Vorhersagen bei der Parlamentswahl deutlich daneben gelegen. Das größte Problem sei vermutlich, die Wahlbeteiligung richtig abzuschätzen, sagt Mortimore.
Normalerweise erklärten vor Wahlen mehr Leute, wählen gehen zu wollen, als dann tatsächlich ihre Stimme abgäben. "Bei Parlamentswahlen haben wir dieselbe Frage schon in derselben Situation gestellt, da haben wir eine Idee, wie viel Übertreibung es geben wird." Man wisse auch, wie sich Lokalwahlen in dieser Frage von Parlamentswahlen unterschieden. "Das hier ist eine andere Art von Wahl, und es wird vermutlich noch ein bisschen anders sein, aber diesmal haben wir keine Vorerfahrung, die uns sagt, wer wirklich wählen gehen wird und wer nicht zugeben will, dass er sich nicht beteiligen wird."