Martin Kocher: "Die FPÖ hat ja auch Wirtschaftsvertreter" [INTERVIEW]
Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher im trend. Interview über Österreich als Einwanderungsland, Fachkräfteabkommen mit Drittstaaten, zentrale Anwerbe-Initiativen und einen Appell an die Kickl-Partei.
Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher
trend:
Anwerbeinitiativen in Drittstaaten werden unverzichtbar sein, um die Fachkräfte-Lücke zu schließen. Ist das Anfang des Jahres bekannt gegebene Fachkräfteabkommen mit Indien schon in trockenen Tüchern?
Martin Kocher:
Es ist von der indischen Seite noch nicht ratifiziert, aber es ist fertig ausgearbeitet. Es ist ein Abkommen neuen Typs, für viele andere Staaten braucht es aber nicht notwendigerweise solche Verträge. Oft reichen informelle Abkommen, in denen es um Kooperation bei der Lehrlingsausbildung vor Ort geht. Das ist auch ein Signal an jene, die nach Österreich kommen wollen.
Es gibt in der Pflege Delegationen unterschiedlicher Bundesländer in die Philippinen, Pflegeheimbetreiber fischen in Marokko oder Uganda – ist dieser Initiativen-Fleckerlteppich kontraproduktiv?
Eine zentrale Rekrutierung macht keinen Sinn. Grundsätzlich ist es eine Aufgabe der Arbeitgeber:innen oder von Unternehmensverbänden, Fachkräfte zu finden. Die öffentliche Hand unterstützt und koordiniert. Da gibt es sicher noch Möglichkeiten, dass wir uns verbessern. Prinzipiell ist das europäische Ausland in den Händen des AMS, Drittstaaten betreut die ABA gemeinsam mit der Wirtschaftskammer.
Die Deutschen haben ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das soeben novelliert wurde, und planen eine Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts. Damit haben sie Österreich etwas voraus.
Für den Arbeitsmarkt ist ein Einwanderungsgesetz nicht mehr notwendig, die Rot-Weiß-Rot-Karte (RWR-Karte) bietet bereits mehr rechtliche Möglichkeiten als in Deutschland. Ich weiß auch nicht, was eine Vermischung mit dem Staatsbürgerschaftsrecht bewirken sollte. Das andere ist natürlich die Frage, welche politischen Signale wir aussenden - aber das ist eine gesellschaftliche Diskussion, weniger eine für die Wirtschaft und die Arbeitgeber.
Für den Arbeitsmarkt ist ein Einwanderungsgesetz nicht mehr notwendig.
Wir hören aus den Firmen, dass die RWR-Karte noch immer zu bürokratisch ist.
Natürlich gibt es Luft nach oben, etwa was die Geschwindigkeit der Verfahren und die Digitalisierung betrifft. Im Idealzustand gibt es eine Website, auf der alle Verfahrensbestandteile abgewickelt werden, da müssen ja die Ausländerbehörden ebenso wie das AMS koordiniert werden. Aber die gesetzlichen Voraussetzungen der RWR-Karte sind, denke ich, gut gelungen, insbesondere seit der Reform 2022. Es gibt nun schon Karten, die binnen weniger Tage ausgestellt werden. Wichtig ist, zu betonen: Das inländische Potenzial ist zum Schließen der Fachkräftelücke erheblich wichtiger als der Zuzug.
Es geht ja nicht nur um Programmierer, sondern in Zukunft wohl auch um Bus- oder Lkw-Fahrer.
Ja, es gibt eine Reihe von Berufen, wo keine formelle Ausbildung erfolgt und die folglich noch nicht unter die RWR-Karte fallen. Das ist tatsächlich eine gewisse Herausforderung. Da wird man darüber nachdenken müssen, wie man Möglichkeiten schafft - nach Ausschöpfung der Möglichkeiten in Österreich und Europa.
Nach meinen Informationen wird derzeit auch über einen Aufenthaltstitel "Lehre" diskutiert.
Ich habe von dieser Diskussion gehört. Nur so viel: Das kann kein großes Programm sein, sondern sehr spezifisch – und die Voraussetzung wäre, dass man das Erwachsenenalter erreicht hat, bevor man einsteigt.
Das Bewusstsein, dass Österreich qualifizierten Zuzug braucht, ist in der Bevölkerung jedenfalls da.
10.000 qualifizierte Migranten mindestens pro Jahr ist laut WKO-Chef Mahrer das Ziel. Wie groß wird die Lücke mittelfristig?
Die Prognosen ändern sich jedes Jahr, durch die ukrainischen Vertriebenen in Österreich haben wir etwa wieder eine völlig andere Situation. Was klar ist: Wir gehen mit der RWR-Karte in Richtung Fünfstelligkeit. Es gibt Prognosen, die ein Delta von bis zu 40.000 zwischen jenen, die in Pensionen gehen, und jenen, die neu in den Arbeitsmarkt kommen, zeigen. An den Erfolgen, wie stark wir das inländische Potenzial ausschöpfen können, wird sich die Größenordnung der Zuwanderung definieren.
Einem potenziellen Anwärter eines Drittstaates signalisieren Sie als Wirtschaftsminister: "Wir brauchen dich!" Der Innenminister hingegen ist Bad Cop und sagt: "Wir wollen keine Migration." Die derzeit in Umfragen führende Partei, die FPÖ, plakatiert: "Festung Österreich". Wie wollen Sie da Österreich als Arbeitsstandort im Ausland attraktiver machen?
Österreich bietet gute Löhne und Arbeitsbedingungen und ist attraktiv. Ich glaube auch nicht, dass das eine das andere ausschließt: einfacher Zugang für Fachkräfte, Strenge bei irregulärer Migration. Das sagt auch der Innenminister, und das machen ja alle Länder, die erfolgreich sind: Kanada, Australien, die USA, das Vereinigte Königreich usw. Bei den Institutionen des qualifizierten Zuzugs gibt es zwischen diesen Ländern und uns wenige Unterschiede.
Ein großer Unterschied ist, dass diese Länder ein tief in ihre Geschichte eingebettetes Selbstverständnis haben, Einwanderungsländer zu sein. Ist Österreich ein Einwanderungsland?
Das weiß ich nicht. Das Bewusstsein, dass Österreich qualifizierten Zuzug braucht, ist in der Bevölkerung jedenfalls da. Das gibt es ja auch schon lange. In den 1960er-Jahren hat man nur den Fehler gemacht, dass man die Integrationsperspektive vergessen hat. Die braucht es jetzt. Vielleicht sollte man auch mit anderen europäischen Ländern gemeinsam an einem Strang ziehen. Selbst die Erfolge der großen deutschen Programme in diesem Bereich sind ja überschaubar.
In Oberösterreich ist auf Betreiben der FPÖ der Zugang zu geförderten Wohnungen für Drittstaatsangehörige restriktiv. Ist das das richtige Signal?
Das muss jedes Bundesland selbst entscheiden. Wir sehen zum Glück eine massive Zunahme von Unternehmen, die Unterbringungsmöglichkeiten bereitstellen.
Führt die Furcht vor der FPÖ dazu, dass man zu vorsichtig ist, wo Tempo geboten wäre?
Die FPÖ hat ja auch Wirtschaftsvertreter, die die Notwendigkeit verstehen. Mein Appell daher: Sie wäre gut beraten, wenn sie die Unterscheidung zwischen irregulärer und wirtschaftlich notwendiger Migration mitträgt.
ZUR PERSON
Martin Kocher, 49, ist in Altenmarkt-Zauchensee aufgewachsen. Der studierte Ökonom, Spezialgebiet Verhaltensökonomie, löste im Februar 2021 Christine Aschbacher (ÖVP) im Arbeitsministerium ab, 2022 übernahm er auch die Wirtschaftsagenden von Margarete Schramböck. Vor seinem Sprung in die Politik war er fünf Jahre IHS-Chef.
Das Interview ist der trend. EDITION vom 28.4.2023 entnommen.