"Die kommende Krise der Staatsfinanzen zwingt zur Gesundheitsreform“
Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling kämpft als Präsident des Vereins Praevenire für eine Neuordnung des Gesundheitssystems. Als früherer Chef des Hauptverbands der Sozialversicherungen kennt er das System wie kaum ein zweiter. Im trend-Interview von Othmar Pruckner beschreibt er, wie der gordische Knoten gelöst werden könnte.
„Wenn Sachfragen zu Machtfragen werden, sind sie meist unlösbar“ klagt Hans Jörg Schelling.
Sie liefern als Ex-Finanzminister und frühere Hauptverbands-Präsident über den Verein „Praevenire“ Handlungsempfehlungen zur Zukunft der Gesundheitsversorgung an die Politik. Wer steht hinter diesem Verein?
Hans Jörg Schelling:
Praevenire ist eine interessenunabhängige Gesundheitsplattform, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt aller Überlegungen zu stellen.: Wir arbeiten zusammen mit Medizinerinnen und Medizinern aus vielfältigen Disziplinen, mit Experten aus dem psychosozialen und lebensunterstützenden Umfeld, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen. Das ist es, was Praevenire auszeichnet: Die wichtige Vernetzung unterschiedlicher Spezialisierungen. Nur so gelingt es uns, groß zu denken und die besten Ergebnisse für die Menschen zu erzielen.
Was treibt Sie an, sich da zu engagieren?
Jeder Mensch hat die beste medizinische Versorgung verdient – unabhängig von seinem sozioökonomischen Status. Österreich steht hier auf einem sehr hohen Niveau. Ich möchte natürlich, dass das auch meine Kinder und Enkelkinder in der Form erleben dürfen, das treibt mich ganz persönlich an. Ich möchte mit pragmatischen und sofort umsetzbaren Lösungen dazu beitragen, dass die seit Jahrzehnten festgefahrenen Diskussionen über notwendige Reformen im Gesundheitssystem wieder in Bewegung kommen. Wir werden nicht daran vorbei kommen, Optimierungen vorzunehmen, klare Kompetenzen zu schaffen, kosteneffizienter zu arbeiten und stets präventiv zu denken.
Wie gehen Sie das taktisch an? Sehen Sie sich als Mediator?
Man muss nicht zwangsläufig Mediator sein, um diesen Prozess zu gestalten. Doch nachdem die Politik nach ähnlichen Spielregeln funktioniert, greife ich hier auf einen recht hilfreichen Erfahrungsschatz zurück. Mir ist das Mission Statement wichtig: Patienten und deren Versorgung in den Mittelpunkt zu stellen und einen total offen Dialog zu initiieren und die Themenkreise zu definieren. Und: es war wichtig, zu Beginn des Prozesses alle Perspektiven offen auf den Tisch zu legen und zu eruieren, in welchen Gesundheitsbereichen dringliche Reformen anstehen. Natürlich braucht es in solchen Prozessen auch Kompromisse, sodass Essenzen aus diesen vielzähligen Gesprächen überhaupt erst möglich werden. Wir haben auch Dissenspositionen großzügigen Spielraum eingeräumt. Das Weißbuch wurde bereits an den Bundeskanzler, an den Vorsitzenden der Landeshauptleutekonferenz und an den Präsidenten des Nationalrates übergeben. Ja, wir sehen, dass das Weißbuch wirkt. Für uns gilt es jetzt, die Umsetzung zu monitoren und – zum Wohle der Patientinnen und Patienten - regelmäßig an die Handlungsempfehlungen zu erinnern.
Ich möchte, dass die festgefahrenen Diskussionen über notwendige Reformen im Gesundheitssystem in Bewegung kommen.
Früher haben Gesundheitsexperten die zu hohe Zahl an zu teuren Akut- bzw. Intensivbetten bemängelt. Wie man in der Coronakrise sieht, ist doch eher das Gegenteil richtig?
Kein Gesundheitssystem kann für Katastrophen Vorhaltung leisten. Das gilt für kriegerische Auseinandersetzungen, Naturkatastrophen oder eben Pandemien. Grundsätzlich orientiert sich die Anzahl der Intensivbetten nach den Operationen. Intensivbetten stehen daher nie leer. Am Beispiel Oberösterreichs sehen wir, dass grundsätzlich jederzeit weitere Intensivbetten installiert werden können. Die wesentliche Frage wäre jedoch: Wie steht es um qualifiziertes Personal? Ein Herzinfarkt-Patient, der ein Intensivbett benötigt, kann nicht von Medizinerinnen und Medizinern mit der gleichen Pflegetypologie betreut werden wie ein COVID-Patient. Die Diskussion, die wir führen müssen, muss daher in die Richtung abzielen, wie wir qualifiziertes Personal aufstocken können. Ich schlage vor, die Med-Unis zu schließen und zumindest die Studierenden im 2. Abschnitt zu einem Pflichtpraktikum mit Anrechnung auf den Turnus in die Spitäler und Pflegeheime als Unterstützung zu bringen.

Hans Jörg Schelling: "Wir haben in Österreich definitiv hohen Aufholbedarf, was das gesunde Altern betrifft. Das Zauberwort ist Prävention."
Durch Corona, schreiben sie, wurden im Gesundheitssystem Fortschritte erzwungen, die bislang nicht für möglich gehalten wurden. Welche sind das?
Wir erleben insbesondere im Bereich digitaler Angebote, die die Pandemie erforderlich gemacht hat, gigantische Entwicklungen. Tele-Ordination, Tele-Psychotherapie, elektronische Krankschreibung, elektronischer Impfpass, E-Rezept, aber auch das erforderlich gewordene vernetzte Arbeiten ist massiv in Bewegung gekommen. Durch Corona haben wir gelernt, dass wir unsere Elfenbeintürme verlassen müssen, weil wir gemeinsam mehr schaffen.
Die Krankmeldung per E-Mail ist zwar praktisch, ist die Gefahr des Missbrauchs aber nicht sehr hoch?
Wir haben ganz im Gegenteil beobachtet, dass die Krankschreibungen in der Zeit der ersten pandemischen Welle zurückgegangen sind. Zudem läuft die Krankschreibung zumeist ja über den betreuenden Hausarzt, der über ein gutes Bild seiner Patientinnen und Patienten verfügt. Die Medizinerinnen und Mediziner haben durch Corona einen stark wachsenden Erfahrungsschatz dahingehend, telemedizinisch zu arbeiten. Das während der Pandemie ermöglichte „e-Rezept Light“, das eine telefonische Verschreibung sowie die Übermittlung des Rezepts per e-Medikation, Mail oder Fax an die Apotheke erlaubte, sowie die digitale Krankmeldung müssen wir als administrative Vereinfachungen unbedingt beibehalten – nicht nur jetzt, auch über den Zeitraum der Pandemie hinweg.
Durch Corona haben wir gelernt, dass wir unsere Elfenbeintürme verlassen müssen, weil wir gemeinsam mehr schaffen.
Die Menschen werden immer älter, die Zahl der gesunden Jahre steigt aber auch im Vergleich zu anderen Ländern zu langsam an. Sind die Österreicher einfach zu sehr Bewegungsmuffel und Schweinsbratenfreaks?
In Österreich leben rund 2,5 Millionen Menschen mit dauerhaften Gesundheitsproblemen. Wir haben definitiv hohen Aufholbedarf, was das gesunde Altern betrifft. Das Zauberwort ist „Prävention“. Menschen, die es von Kindheit an gewohnt sind, einem gesunden Lebensstil nachzugehen, werden im Alter weniger mit den Folgen ungesunder Ernährung oder mangelnder Bewegung konfrontiert sein. Wenn es uns gelingt, die Menschen zu motivieren, auf ihre Gesundheit zu achten, sodass sie auch im Alter mobil, selbständig, genussvoll und eigenbestimmt leben können, dann ist schon viel geschafft. In Österreich liegt die Lebenserwartung von Frauen im Schnitt bei 84 Jahren, von Männern bei 79 Jahren. Davon verbringen Frauen knapp 67 Jahre und Männer knapp 66 Jahre in guter bis sehr guter Gesundheit. Wenn wir die gesunden Lebensjahre zukünftig erhöhen wollen, müssen wir vor allem im Umfeld chronisch erkrankter Menschen wichtige Aspekte in gesundheitspolitische Überlegungen integrieren.
Eines ihrer Zauberworte ist „Digital Health“. Ohne personenbezogene Gesundheitsdaten, so wird postuliert, geht in Zukunft gar nichts mehr. Das macht aber vielen Menschen und Datenschützern Angst. Wie nimmt man etwa die Angst, dass der Arbeitgeber von meiner chronischen Krankheit erfährt?
Wichtig wäre, das Thema Datenschutz in eine gesamtgesellschaftliche und politische Diskussion zu bringen. Die Entscheidung soll von der Bevölkerung getroffen werden, und nicht von einzelnen Institutionen. Das wäre sehr wichtig für den Vertrauensaufbau. COVID-19 hat sehr geholfen, hier ein neues Bewusstsein zu schaffen. Die Menschen waren eher bereit, ihre Daten für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung zu stellen, um so der Allgemeinheit zu helfen. Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen erfährt nicht, dass Mitarbeiter an Covid erkrankt sind, der Betrieb steht möglicherweise dann vor schwerwiegenden Problemen. Wir müssen uns klar darüber sein, dass Daten Leben retten können. Was bringt uns ein Datenpool, wenn dieser nicht genutzt werden darf? Österreich bzw. Europa unterliegen sehr strikten Datenschutzkriterien. Nachdem es sich gerade in der Medizin um besonders sensible, schützenswerte Daten handelt, müssen diese in anonymisierter und pseudoanonymisierter Form verarbeitet sein und auf einer datenschutzrechtlich qualitativ hochwertigen, validen und sicheren Basis fußen. Wir beobachten hier ja auch eine gewisse Schizophrenie in der Gesellschaft: Einerseits werden über diverse Social-Media Kanäle und amerikanische Plattformen persönliche Daten völlig unreflektiert geteilt und damit Unternehmen für Marketingzwecke zur Verfügung gestellt. In der Forschung und Wissenschaft kommt es hingegen sehr schnell zu skeptischen Überlegungen. Doch gerade dort könnten Daten und qualitativ hochwertige Register Leben retten und unterliegen gleichzeitig strengen Security Richtlinien.
Wir haben definitiv hohen Aufholbedarf, was das gesunde Altern betrifft. Das Zauberwort ist „Prävention“.
Wie und mit welchen Mitteln können die Menschen zu mehr Prävention, uzu einem gesunderen Lebensstil erzogen werden?
Prävention beginnt schon in der Schwangerschaft, erstreckt sich über die präventive Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und endet erst im hohen Alter. Ein gutes Beispiel der Prävention ist der Mutter-Kind- Pass, den wir massiv altersmäßig verlängern wollen oder das Modell standardisierte Einladung zur Brustkrebsvorsorge. Solche Modelle müssen ausgebaut werden. Erfolgreiche Prävention braucht aber auch zeitgemäße Ansätze: Wir müssen uns gerade für jugendliche Zielgruppen neue Modelle überlegen, die greifen. Junge Leute werden wir nur schwer für Altersthemen mobilisieren können, weil das für viele einfach noch zu weit weg ist. Aber wir können beispielsweise eine Brücke in den Bereich Lifestyle/Beauty legen: Viele junge Leute - die Generation Social-Media – legt sehr großen Wert auf ihr Äußeres. Da kann man gut anknüpfen. Ein Rauchstopp in jungen Jahren bedeutet beispielsweise nicht nur, dass unser Körper gesünder altern kann, sondern auch, dass wir mit Vierzig noch keine Falten haben. Wir müssen zielgruppengerechte Bilder kreieren, die ziehen. Junge Leute in jenen Welten abholen, in denen sie sich bewegen.
Aber auch in den Betrieben kann Vorsorge verbessert werden. Dazu muss man die Möglichkeiten der Arbeitsmediziner ausbauen. Besonders wichtig aber auch, dass Kindergartenpädagoginnen und Pädagogen sowie Lehrerinnen und Lehrer genauso wie Ärztinnen und Ärzte für Prävention ausgebildet und im letzteren Fall auch honoriert werden. Viele Menschen können zur Vorsorge motiviert werden, wenn man ihnen Anreize, Belohnungssysteme, Gamification-Ansätze bietet. Wir müssen es schaffen, die jeweilige Sprache der Menschen zu sprechen, neue Bilder gestalten, die automatisch Lust darauf machen, sich für den gesunden Lebensstil zu entscheiden und nicht für den schädigenden. Bilder, die mit Freude, Lebenslust, Energie assoziiert werden.

Hans Jörg Schelling: "Ein Großteil der jungen Menschen hat ein wesentlich höheres Faible für ein gesundes Leben und gesundes Klima, als wir alle gemeinsam je zuvor."
Müsste nicht zu allererst die Werbung für Coca Cola, Red Bull und McDonalds verboten werden?
Nicht verbieten, stattdessen Kooperationen suchen, um gemeinsam die richtigen Botschaften zu streuen. Große Player, die die Sympathien der relevanten Zielgruppen schon haben, ins Boot holen. Der reduzierte Einsatz von Salz bei Bäckern ist ein schönes Beispiel einer solchen Kooperation.
Große Teile unserer Wirtschaft und Gesellschaft haben doch gar kein Interesse an einem gesunden Lebensstil, oder?
Ein Blick auf die Friday-for-Future-Generation zeigt deutlich, dass ein Großteil der jungen Menschen ein wesentlich höheres Faible für ein gesundes Leben und gesundes Klima hat, als wir alle gemeinsam je zuvor. Die Jungen sind auf der richtigen Spur und verdienen jede Unterstützung, die wir ihnen geben können. Denn die Wirtschaft wird sich auf genau diesen Zug setzen müssen, um von dieser neuen Generation langfristig akzeptiert zu werden.
Die Jungen sind auf der richtigen Spur und verdienen jede Unterstützung, die wir ihnen geben können.
Das Gesundheitswissen der Österreicher ist im internationalen Vergleich stark unterdurchschnittlich ausgeprägt. Glauben sie, dass ein Schulgegenstand da etwas helfen kann? Ist da nicht eher das Elternhaus verantwortlich?
Mit einem Schulfach „Prävention/Gesundheitskompetenz“ erreichen wir auch jene Kinder und Jugendlichen, die diese positiven Botschaften zum gesunden Lebensstil in der Familie nicht bekommen und in ihren Entscheidungen allein gelassen werden. Dem Leitbild der Weltgesundheitsorganisation folgend – „make the healthy choice the easy choice“ – wollen wir dem Elternhaus nicht die Verantwortung nehmen, aber den Kindern neue Chancen geben. Und die Eltern müssen mit einbezogen werden, z.B. bei Elternabenden, denn die beiden wichtigsten Faktoren – Ernährung und Bewegung – werden zu Hause mehr beeinflusst als nur in der Schule.
Welche erzieherischen Zwangsmaßnahmen sind möglich? Teilweise gibt es ja schon Ansätze zu einem Versicherungs-Bonus-Malus-System.
Ich bin kein Freund von Zwangsmaßnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen und schon gar nicht von Malus. Die gesundheitlichen Probleme betreffen nämlich die bildungsfernen und damit in der Regel einkommensschwache Personen stärker. Aber es gibt erste erfolgversprechende Beispiele. Die SVS geht hier mit einem positiven Beispiel heran, wenn auch auf freiwilliger Basis: Es sind geringere Kosten für Sozialversicherung zu zahlen, wenn Vorsorgeprogramme absolviert werden. Man kann eine Verpflichtende Nach-Reha einführen, sodass die Menschen nicht wieder in den gewohnten Zustand zurückfallen. Man kann das betriebliches Gesundheitsmanagement erhöhen oder ein unbürokratisches Einladungssystem für Mammografie ausrollen.
Sollen Zigarettenraucher mit höheren Krankenversicherungsbeiträgen belegt werden?
Die internationalen Erfahrungen zeigen zwei Dinge. Erstens muss in der Jugend darauf geachtet werden , dass mit dem Rauchen gar nicht erst begonnen wird. Hier sind wir eher Schlusslicht statt Vorbild. Und zweitens geht das scheinbar nur über einen dramatisch hohen Zigarettenpreis. Würde man das als Steuer gestalten und die Erträge für Prävention zweckwidmen, wäre eine weiterer Meilenstein geschaffen.
Es muss darauf geachtet werden, dass mit dem Rauchen gar nicht erst begonnen wird. Hier sind wir eher Schlusslicht statt Vorbild.
Wer sich aktiv um die Gesundheit seines Kindes kümmert, soll mehr Kinderbetreuungsgeld erhalten, steht in ihrem Weißbuch. Wie soll das nachgewiesen werden?
Zusätzlich zu bestehenden Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen, die bis z.B. zum 14. Lebensjahr verlängert werden könnten, kann man etwa die Teilnahme an Bewegungsprogrammen oder Sportkursen, die gemeinsam mit den Kindern absolviert werden können, verbindlich machen.. Oder auch verpflichtende Präventionsgespräche einführen.

Hans Jörg Schelling bei der Präsentation seines Weißbuchs zur Zukunft der Gesundheitsversorgung.
Immer wieder wird vom Finanzierungsdschungel des Gesundheitssystems geredet. Welche Rezepte verschreiben sie da?
Eine Zwei-Topf-Finanzierung: Der niedergelassene Bereich und die Ambulanzen werden aus einem Topf) finanziert, der zweite Topf wird für den intramuralen Bereich generiert. Das ermöglicht, dass notwendige Versorgungsleistungen bei mangelnder Bereitstellung durch den niedergelassenen Bereich von Spitalsambulanzen erbracht werden können und im gleichen Umfang mittels Kassenvertrag honoriert werden. Viele Leistungen der Ambulanzen können wiederum durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte durchgeführt werden, wie etwa Kontrolluntersuchungen oder Wundversorgung. Man sollte auch PPP-Modelle für die Finanzierung regionaler Therapiezentren entwickeln.
Warum ist eine Finanzierung des Gesundheitssystems aus einem Topf nicht umsetzbar?
Der Kompetenzdschungel zwischen Sozialversicherung, Ländern, Kommunen und Bund hat bisher alle Versuche scheitern lassen. Ich persönlich bin noch immer der Meinung, dass die Kompetenz für Gesundheit, die Planung und Steuerung des Systems beim Bund liegen soll und damit die Finanzierung aus einem Topf nach jahrzehntelangen Versuchen Wirklichkeit werden kann. So steht es übrigens in der letzten Vereinbarung zum Finanzausgleich. Leider geschieht aber nichts, weil es sich offensichtlich um eine Machtfrage handelt. Und wenn Sachfragen zu Machtfragen werden, sind sie meistens unlösbar. Daher der vorgeschlagene Zwischenschritt mit der Finanzierung aus zwei Töpfen.
Gesundheit ist mit 11 Prozent des BIP ein gigantischer Markt. Wirtschaft und Medizin wachsen immer stärker zusammen.
Sie nennen das momentane System „interessensorientiert“. Wer hat welche Interessen, außer die Menschen gesund zu machen?
Natürlich gibt es Interessen der Politik auf allen Ebenen, der Interessensvertretungen aller Art, der Industrie und viele mehr. Gesundheit ist mit 11 Prozent des BIP ein gigantischer Markt, von dem sicher jeder Gruppe einen Teil des Kuchens sichern will. Wir müssen überall dort, wo Menschen mit dem Gesundheitssystem in Kontakt kommen, in erster Linie darauf achten, dass es um die Bedürfnisse des jeweiligen Menschen geht. Dazu gehört die Frage: Wo bekommt wer die passende und optimale medizinische Versorgung und wie kann ich diesen Menschen dabei unterstützen, die richtige Spur zu finden? Dazu gehört auch, die Versorgung möglichst nah zu den Menschen zu bringen, was mit verstärktem Einsatz von Primärversorgungseinheiten realisiert werden kann. – Wohnortnahe und ambulante Lösungen! Das ist eines von vielen Beispielen, wo es durch Beharrung einzelner Interessen sehr lange dauert, bis man dieses zwischenzeitlich anerkannte Versorgungsmodell in die Gänge bringt. Im Bereich der Kinder-Reha orten wir hier beispielsweise noch hohen Verbesserungsbedarf. Kinder und Jugendliche brauchen ein auf sie abgestimmtes Konzept. Es ist wichtig, dass Eltern ihre Kinder im Zuge einer familienzentrierten Rehabilitation begleiten können und dabei finanziell abgesichert sind.
Kann man überhaupt ändern, dass möglichst viele Stakeholder mit der Gesundheit „gesunde Geschäfte“ machen wollen?
Die Bereiche Wirtschaft und Medizin wachsen generell immer stärker zusammen, wie sich das vor allem auch im Bereich Digital Health zeigt. Wir müssen strukturelle und wirtschaftliche Anreize setzen und medizinisches Unternehmertum fördern. Wichtig ist, dass die solidarische Grundversorgung für jeden Menschen erhalten bleibt und wir nicht in eine Zweiklassen-Medizin abdriften. Und die Hoheit, die zum Teil an Interessensvertretungen abgegeben wurden, müssen die die planerische Hoheit des Staates zurück.
Teure Spitäler sind Statussymbole von Landeshauptleuten. Sehen sie da eine Trendumkehr, einen Pfad zu Kooperation, zu Spezialisierungen, statt Konkurrenzkampf?
Mit der von mir vor Jahren initiierten Zielsteuerung sind erste Schritte gelungen. Auch die Länder haben erkannt, dass wir ohne den Finanzierungspfad in echte Finanzierungsprobleme kommen. Der Trend zu Spezialisierungen ist unausweichlich und soll auch verstärkt ausgerollt werden. Wir brauchen in Österreich Exzellenz-Cluster, um Spitzenmedizin in Österreich zu halten und gute Arbeitsbedingungen für Forscherinnen und Forscher sicherzustellen. Erste Länder haben ja mit ihren Spitalsreformen auch bereits Schritte gesetzt, die eine Trendwende einläuten. Gerade Corona lehrt uns ja, dass wir gemeinsam stärker sind und uns Konkurrenzdenken nicht weiterbringt. Die beste Forschung setzt sich aus Denkern zusammen, die es verstehen, vernetzt, interdisziplinär, multidisziplinär zu arbeiten. Spitzenforschung in Kliniken stellen die Basis dar für ein erstklassiges Gesundheitssystem zum Wohle der Menschen und zum Wohle des Wirtschaftsstandortes Österreichs.
Wir brauchen vor allem im Bereich praktischer Ärzte eine Änderung im Honorierungssystem.
Liegt nicht auch viel Schuld am teuren System bei den Ärzten selbst, die fleißig Rezepte und Krankenstand anstatt gesunden Lebensstil verschreiben?
Was uns mehr Gesundheit und weniger Kosten bringen würde, wäre beispielsweise ein „Bewegungsrezept“. Der behandelnde Arzt verschreibt – vorab zu Pillen und OPs – ein verpflichtendes Bewegungsprogramm über einen definierten Zeitraum. Zudem müssen wir den Ärztinnen und Ärzten Honorarsysteme für Präventionsberatung zur Verfügung zu stellen, sodass Beratung auch einen höheren Stellenwert erlangt. Wir brauchen vor allem im Bereich praktischer Ärzte eine Änderung im Honorierungssystem, mit dem das Aufklärungsgespräch und die Überwachung der Einhaltung honoriert werden.
Stimmt es, dass ein Drittel aller verschriebenen Medikamente ungeöffnet entsorgt, gar nicht verwendet werden?
Zu meiner Zeit im Hauptverband waren es rund 10 Prozent, daran dürfte sich nicht viel verändert haben. Das System E- Medikation dürfte hier auch positive Wirkung zeigen. Und: Die Patientinnen und Patienten müssen hier verstärkt beratend begleitet werden, um genau das zu verhindern. Zudem brauchen wir dringend ein optimiertes digitales Disease-Management, um die gefährliche Polypharmazie in den Griff zu bekommen. Österreich zeigt hier insbesondere Aufholbedarf beim Management chronischer Krankheiten. Mithilfe digitaler Lösungen sowie Modulen, die bereits in ELGA integriert sind, kann auch eine gezieltere Abstimmung der Arzneimitteltherapie zwischen extra- und intramuralem Bereich erfolgen.

Ex-Finanzminister Hans Jörg Schelling präsentiert Bundeskanzler Kurz sein "Weißbuch" zur Gesundheitsreform. Die Politik ist am Zug.
Wo sind aus ihrer Sicht die allergrößten Einsparungspotentiale?
Man muss die richtigen Versorgungsebenen definieren, die Patientinnen und Patienten an der Hand nehmen und sie durch das Gesundheitssystem lotsen. In dieser Rolle müssen die Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner massiv gestärkt werden, da sie oftmals die erste Anlaufstelle für die Menschen darstellen. Essenzielle Vorsorgeuntersuchungen retten Leben und sparen Langzeitkosten. Der Ausbau psychotherapeutischer Angebote ist ebenso wichtig wie der Ausbau und die Aufrechterhaltung telemedizinischer Services. Dazu kommt natürlich die Forderung nach klaren Finanzströmen und einheitlicher Planung. Wir sollten uns jedenfalls an internationalen Beispielen orientieren. Finnland schafft es, rund 1.000.- Euro pro Kopf und Jahr weniger auszugeben und hat auch eine gute Versorgung. Ich glaube nicht, dass durch die älter werdende Bevölkerung und den medizinischen Fortschritt die Versorgung billiger wird, aber durch Effizienzsteigerung können wir ohne Mehraufwand die beste Versorgung sicherstellen.
Nehmen wir das Beispiel Diabetes: Österreich hinkt hier im europäischen Vergleich in der Behandlung hinterher. Die Zahl der Amputationen aufgrund von Diabetes liegt deutlich über dem Niveau anderer Länder. Beispiele aus Dänemark und den Niederlanden zeigen, dass mit multiprofessionellen Diabetesversorgungszentren und der Förderung von innovativem Wundmanagement gute Behandlungsergebnisse erzielt werden. Wir in Österreich denken zu viel in Einzelmaßnahmen auf jeder Ebene und zu wenig an die Folgekosten. Durch den Finanzdschungel hat sich ein Verschiebebahnhof zwischen extra- und intramuralem Bereich etabliert.
Beim Corona-Management der Regierung gab es viele Versäumnisse in Vorbereitung auf die zweite Welle.
Wie kann und muss die große Gesundheitsreform politisch angegangen werden?
Kann das der Gesundheitsminister überhaupt leisten?
Die große Gesundheitsreform wird nur im Zusammenspiel mit allen relevanten Akteuren erfolgreich sein. Wir kennen die Rahmenbedingungen der Zukunft und müssen daher jetzt handeln. Leider herrscht in der Politik noch immer die Angst vor, dass man mit Gesundheit keine Wahlen gewinnen, aber leicht verlieren kann.
Sind sie eigentlich mit dem Corona-Management der Regierung zufrieden?
Zu Beginn der Pandemie ja, im weiteren Verlauf gab es viele Versäumnisse in Vorbereitung auf die zweite Welle. Was die Verordnungen anbelangt, haben die Gerichte gezeigt, dass wir neben der Pandemie auch eine „Pannendemie“ haben. Die Frage, die sich stellt ist, inwiefern die Bevölkerung bereit ist, den Kurs der Regierung mitzugehen? Hier mangelt es sicher noch an der Kommunikation. Zum Teil ist die jetzige Situation auch durch eine Art Vertrauensverlust in Politik und vor allem Wissenschaft gekennzeichnet
Was würden sie für die nächsten Monate generell raten?
Der Prävention einen hohen Stellenwert geben. Wir dürfen jetzt nicht auf jene Menschen vergessen, die wirtschaftlich und emotional hoch belastet sind. Man muss klare, abgestimmte Botschaften kommunizieren, die Disziplinen noch stärker vernetzen. Und dauerhafte Test z.B.in Alters- und Pflegeheimen einführen.
Es ist genug Geld im System, das durch kuriose Schnittstellen und undurchsichtige Finanzströme versickert.
Wie kommt man an jene Menschen heran, die der Regierung, den seriösen Medien gar nicht mehr vertrauen?
Das Wichtigste, das wir jetzt erhalten müssen, ist die gesicherte medizinische Versorgung für jeden. Für viele wird die medizinische Top-Versorgung erst dann spürbar, wenn es das eigene Umfeld, die eigene Familie betrifft. Vielleicht hat jemand in letzter Zeit die Erfahrung gemacht, wie wertvoll es ist, wenn ein OP-Team für eine Notoperation von der einen Minute auf die andere stehen muss – und dieses auch steht. Auf diese Qualität will niemand von uns verzichten. Österreichs Medizinerinnen und Mediziner sowie pflegende Expertinnen und Experten leisten großartige Arbeit. Es liegt sehr stark in der Hand jedes einzelnen Menschen, wie sich die nächsten Wochen entwickeln. Wir sind alle noch müde von der ersten pandemischen Welle. Aber es wäre nicht fair, nur die Mediziner kämpfen zu lassen. Das Virus hat keine Chance gegen die gebündelte Kraft der Gesellschaft. Jetzt die Zügel der Eigenverantwortung aus der Hand zu geben, würde bedeuten, dass wir das Virus gewinnen lassen.
Wird in Nach-Corona-Budgets überhaupt genug Geld für Gesundheitsinvestitionen da sein?
Innovation bedeutet nicht zwangsläufig Kostenerhöhung. Im Prinzip ist genug Geld im System, das durch kuriose Schnittstellen und undurchsichtige Finanzströme versickert. Wir müssen dringend Effizienzen erhöhen und das Versorgungsmanagement optimieren – und dabei stets die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Erst durch die Erhöhung der Effizienzen schaffen wir es, Gelder frei zu machen.
Was ist, wenn die große Gesundheitsreform nicht gelingt? Wenn typisch österreichisch alles so weitergeht wie bisher?
Ineffizienzen werden sich nicht von allein lösen. Wenn alles so bleibt, würde es uns auf lange Sicht zu hohe Kosten verursachen, die unsere Kinder und Enkelkinder ausbaden müssen. Die Zukunft der Gesundheit braucht krisenfeste, kosteneffiziente und moderne Konzepte, schlanke Lösungen, basierend auf zielgerichteter Versorgung, die sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientiert. Die Alternative – noch mehr Steuergeld oder Erhöhung der Beiträge – wird sicher von der Bevölkerung nicht akzeptiert, solange nicht alle Effizienzpotentiale gehoben werden. Und die Krise der Staatsfinanzen verursacht durch die Pandemie wird uns zu diesen Maßnahmen zwingen.