Kampf um die Weltherrschaft

In den USA wurde Barack Obama wieder zum Präsidenten gewählt, in China kommt Xi Jinping an die Macht. Die Führer der größten Volkswirtschaften rittern um die globale Dominanz. Doch die größten Herausforderungen erwarten sie zuhause.

Kampf um die Weltherrschaft

Woche 45. Noch nie wurden in Friedenszeiten innerhalb eines derart engen Zeitfensters die Führer der beiden mächtigsten Staaten dieses Planeten neu gekürt. Am Dienstag wurde auf der einen Seite der Erdkugel der bisherige US-Präsident Barack Obama wiedergewählt - mit einem breiten Bevölkerungsvotum in der größten Volkswirtschaft der Welt. Am Donnerstag wurde auf der anderen Seite der im Westen kaum bekannte Xi Jinping zum neuen Chef der Kommunistischen Partei der Volksrepublik China - in einem von langer Hand vorbereiteten Generationenwechsel innerhalb einer 24-köpfigen Politbüro-Elite, deren Diktat Wohl und Wehe des bevölkerungsreichsten Landes der Welt bestimmt.

Eine Koinzidenz, durch die auch die Rivalität zweier Wirtschaftssysteme, die politisch unterschiedlicher nicht sein könnten, aber paradoxerweise über lebenswichtige wirtschaftliche Nervenstränge anscheinend untrennbar miteinander verwoben sind, in den Vordergrund rückt. Hier eine in die Jahre gekommene Supermacht, die über weite Strecken das 20. Jahrhundert dominierte, ihren Erzfeind UdSSR in die Knie gezwungen und ihre Werte und ihr Geld in alle Welt exportiert hat. Und die nach Jahrzehnten unangefochtenen Erfolgs saturiert, bequem und müde geworden ist. So sehr, dass sie vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel“ bereits aufs volkswirtschaftliche Siechbett gelegt wird: "Der amerikanische Patient“.

Auf der anderen Seite aber ein 1,35 Milliarden Menschen starkes Volk, dessen Wirtschaft einem aufblühenden pubertierenden Jugendlichen gleicht - rasant zu Kraft und Größe wachsend, doch (noch) verschlossen und bisweilen recht bockig, aber das volle Leben vor sich.

Und nun, in Woche 45, am Scheideweg der Entwicklung dieser zwei Giganten, rätselt die von ihnen auf Gedeih und Verderb abhängige Welt, ob sie nun treppab, treppauf aneinander vorbeiziehen, innehalten, um miteinander zu ringen, oder doch gemeinsam an einem Strang ziehen werden. Und derzeit hat es den Anschein, dass die USA in dieser Frage die schlechteren Karten haben. Denn, wie man seit Präsident Bill Clinton weiß: "It’s the economy, stupid.“

Der amerikanische Alptraum

"Tief in unseren Herzen wissen wir, dass für die Vereinigten Staaten von Amerika das Beste erst noch kommt“, versuchte Präsident Barack Obama gleich zu Beginn der Rede nach seiner Wiederwahl nicht umsonst neuen Mut zu versprühen. Hinter all der Siegesfreude schimmerte aber durch, dass Obamas Optimismus auch eine weniger angenehme Seite hat: Selbst wenn die USA weiterhin als wirtschaftliche und politische Supermacht anerkannt werden, kommen auf das ideologisch zweigeteilte Land unweigerlich schwierige Veränderungen zu.

Und dem neuen, alten US-Präsidenten bleibt zum Schwungholen gar keine Zeit: Mit dem sogenannten "fiscal cliff“ droht Ende des Jahres der ökonomische Super-GAU. Sollten sich Demokraten und Republikaner bis Jahresende nicht auf Maßnahmen einigen, die den Staatshaushalt zumindest mittelfristig sanieren, tritt eine automatische Schuldenbremse in Kraft. Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen von jährlich rund 670 Milliarden Dollar wären die Folgen, die sich mit bis zu vier Prozent weniger Wachstum auf die Wirtschaft niederschlagen könnten. Momentan beträgt es zwei Prozent. Ein Szenario, an dem sich auch das Dilemma zeigt, das zum Leitmotiv der kommenden vier Jahre werden wird - und das auch dem von Rezession geplagten Europa bekannt ist: Der Staat muss sein Defizit und seine Schulden abbauen, aber gleichzeitig auch für höheres Wirtschaftswachstum sorgen.

Dabei knarzt es an allen Ecken und Enden. Zum vierten Mal in Folge übersteigen 2012 die Ausgaben der USA ihre Einnahmen um eine Billion Dollar. Die Staatsschulden belaufen sich auf 16 Billionen Dollar oder rund 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Grenze, ab der es für Staaten fast aussichtslos wird, sich längerfristig zu finanzieren, liegt bei 90 Prozent. Die Schulden lassen die Wirtschaft laut Studien jedes Jahr um ein Prozent weniger wachsen.

Weniger Wachstum bedeutet aber, dass es noch schwieriger wird, das Defizit zu senken, dass die Arbeitslosenzahlen weiterhin bei knapp unter acht Prozent bleiben. Dass die Kaufkraft der Mittelschicht, die heute auf dem Niveau von 1973 liegt, sich kaum bewegen kann und mehr Menschen verarmen. Bereits jetzt ist der Wohlstand extrem ungleich verteilt.

Zwar ist sowohl den regierenden Demokraten als auch den Republikanern, die die Mehrheit im Repräsentantenhaus stellen, die Lage bewusst. Allerdings gingen ihre Lösungsansätze bisher in völlig konträre Richtungen. Romney wollte vor allem Sozialleistungen streichen, Obama auf breiterer Basis Kürzungen vornehmen. Romney wollte Unternehmen und Reiche entlasten, Obama die Steuern für mehr Staatsausgaben erhöhen.

Die Führungsrolle abgegeben

Denn zuletzt hat der Hurrikan "Sandy“ gezeigt, was Studien der OECD und anderer Institutionen schon seit Jahren darzulegen versuchen: An vielen Stellen fallen die USA hinter andere Länder zurück. Die Bereiche, um die es sich dabei dreht, sind jedoch jene, an denen sich die Zukunft eines Landes entscheiden kann, wie etwa die Infrastruktur: Die Telekommunikations- und Stromnetze sind veraltet, in einem weltweiten Ranking der Energieversorgung stehen die USA auf Platz 32. Der Zustand der Staudämme sei gar "alarmierend“, sagt die US-Ingenieursvereinigung ASCE. Dasselbe gilt für das Verkehrsnetz, jede vierte der 600.000 Brücken sei instabil. Häfen seien teils so überholt, dass jüngere Containerschiffe sie gar nicht mehr befahren könnten. Alllein das Stromnetz braucht bis 2020 rund 107 Milliarden Dollar an Investitionen.

Weitere Mängel haben die Experten im ineffizienten Steuersystem, im überteuerten Gesundheitsbereich und auch im Bildungssystem entdeckt. Zwar bieten die USA nach wie vor die besten Universitäten der Welt, zwar können sie die längste Liste an Nobelpreisträgern aufweisen und sich gerade in der Hochtechnologie die meisten Patente sichern - doch an der Basis bröckelt es. Die öffentliche Hand knausert bei Bildungsinvestitionen, US-Staaten wie Kalifornien geben mehr Geld für ihre Gefängnisse als für ihre Schulen aus. Einer von vier Schülern wird nicht einmal die Highschool abschließen, und die steigenden Gebühren führen dazu, dass immer mehr Amerikaner ihre Studien abbrechen. Allein seit 2009 wurden dadurch 850.000 Studenten-Kredite in der Höhe von acht Milliarden Dollar fällig. Schon jetzt drohen den USA die Fachkräfte auszugehen, so die OECD.

So schwierig die US-interne Situation auch sein mag: "Der Abstieg der USA wird schon lange verkündet, eingetreten ist er jedoch nicht“, sagt Marcus Scheiblecker vom Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo. Weil die größte Stärke der USA in ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit liege, werde an ihrer Vormachtstellung auch der Aufstieg Chinas nichts ändern.

Sündenbock China

Vielmehr glauben zumindest fast 50 Prozent der Amerikaner, dass China für die eigene Misere verantwortlich sei. Auf die Frage, warum es in den USA weniger Jobs als vor vier Jahren gäbe, fanden Mitt Romney und deutlich gemäßigter auch Barack Obama zu derselben Antwort: China ist schuld. Weil das Land billiger produziere, erstens. Weil es schamlos "amerikanische Ideen und Technologien stehle“, so Romney zweitens. Und weil es seine Währung künstlich niedrig halte und sich so einen Exportvorteil verschaffe, drittens.

So griffig derartige Anschuldigungen im Wahlkampf sein mögen, so halbwahr sind sie auch. Natürlich haben die USA ein gigantisches Handelsbilanzdefizit in der Höhe von 295 Milliarden Dollar mit China aufgebaut. Aber das Land hat mit weiteren 97 Nationen Handelsbilanzdefizite. Die Güterproduktion wurde in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive - vor allem wegen immenser Lohnkostenvorteile - in die verlängerte Werkbank im Reich der Mitte ausgelagert. Nur noch zehn Prozent der in der Privatwirtschaft Beschäftigten arbeiten heute in der Produktion. Dafür wurden die billig und massenweise konsumierten Waren reimportiert. Und zwar in zunehmendem Ausmaß auf Pump, finanziert von der chinesischen Zentralbank, die inzwischen Währungsreserven von rund drei Billionen Dollar angesammelt hat und der größte Gläubiger der USA ist. China nutzt diese Reserven mittlerweile, um sich in den USA, aber auch in Europa günstig in marode Firmen einzukaufen und somit Arbeitsplätze zumindest zu erhalten.

Auch das Argument, die gigantische Exportmaschinerie Chinas würde nur durch einen künstlich unterbewerteten Renminbi am Laufen gehalten, wird von Fachleuten mehr und mehr in Zweifel gezogen. "Seit 2005 hat China seine Währung gegenüber dem Dollar Schritt für Schritt um etwa 30 Prozent aufgewertet“, sagt Stephen S. Roch, Professor und Ex-Chefvolkswirt von Morgan Stanley. "Und es ist mit weiteren Angleichungen zu rechnen.“

In Wahrheit mehren sich die Zeichen, dass dieser globalwirtschaftliche Kreislauf seit Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise vor fünf Jahren eine neue Gewichtung bekommt. Denn je mehr in den USA und auch Europa, den neben Hongkong, Japan und Südkorea wichtigsten Exportmärkten für China, die Nachfrage sinkt, desto mehr muss es die Inlandsnachfrage ankurbeln. Je mehr diese wiederum steigt, desto bedeutender wird China als Absatzmarkt für die USA oder die Eurozone. So steht der neue KP-Präsident Xi Jinping vor einer gewaltigen Herausforderung: dem Management eines konfliktlosen Übergangs von einer Volkswirtschaft auf Aufholjagd unter immensen Entbehrungen zu einer Gesellschaft mit ausgeprägter Mittelklasse, die mehr und mehr demokratische Freiheiten und eine gerechtere Verteilung des mühsam erkämpften Wohlstandes fordert.

Seit der Mao-Erbe Deng Xiaoping in den 1980er-Jahren seine Wirtschaftsreformen einleitete, konnte China sein BIP von 307 Milliarden Dollar im Jahr 1985 auf 7,3 Billionen Dollar im Vorjahr steigern. Die Exporte sind im gleichen Zeitraum von 27 Milliarden auf 1,9 Billionen gestiegen. Heute werden in China 15,2 Millionen Neuwagen pro Jahr zugelassen, fünfmal so viel wie in Deutschland. Und die Volksrepublik hat sich voller Selbstbewusstsein auf eine weltweite Einkaufstour begeben, erwirbt in Afrika Agrarland, in Afghanistan Kupferminen und in Griechenland Häfen. Allein im ersten Halbjahr 2012, so errechnete das Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers, gaben die roten Kapitalisten für ausländische Firmenbeteiligungen knapp 24 Milliarden Dollar aus - dreimal so viel wie im gleichen Zeitraum 2011.

Dieser ungebrochene Expansionsdrang ist die eine Seite der chinesischen Wirtschaft. Die andere Seite ist die ökonomische Lage im Heimatland. Seit Jahr und Tag ist die Rede von einer Blase, die zu platzen drohe, vom Ende der "chinesischen Party“. Das wird daran festgemacht, dass die vergangenen Wirtschaftswachstumsraten von jährlichen neun, zehn Prozent auf etwa 7,5 Prozent gefallen sind - teils ganz bewusst von der Zentralregierung gesteuert. Der Shanghaier Börsenindex grundelt auf einem Dreijahrestief, der Anstieg der Industrieproduktion schwächelt. Aber vor allem: Chinas Business-Konzept als Werkbank der Welt gerät ins Wanken und müsse "dringend geändert“ werden, so der jüngste Weltbankbericht.

In diesem werden nicht nur "grundlegende Reformen“ des chinesischen Geschäftsmodells gefordert, sondern auch seiner innenpolitischen Verfasstheit. "Peking steht an einem Wendepunkt“, heißt es da. Werde nicht der monopolartige Einfluss der Staatsbetriebe eingedämmt, werde nicht "die Macht jener Interessengruppen, die von speziellen Beziehungen profitieren“, beschnitten, also der überbordenden Korruption der Garaus gemacht, und gelinge es nicht, sowohl für die eigenen Leute als auch ausländische Investoren nachhaltige Rechtssicherheit zu schaffen, drohe China auf dem Weg zu einer modernen Industriegesellschaft auf halbem Weg stecken zu bleiben.

Natürlich weiß das die chinesische Führung und hat viele dieser fundamentalen Neuorientierungen in Chinas 12. Fünfjahresplan in Stein gemeißelt. "Ging es in den vergangenen Jahren um Sicherheit, wird es in China nun auch stärker um Gerechtigkeit gehen“, sagt Marcus Scheiblecker vom Wifo. Ganz oben auf der Agenda stehen der verstärkte Einsatz nachhaltiger Energieträger, die Bekämpfung der immens ungerechten Verteilung von Vermögen (Chinas Gini-Wert ist mit 0,5 noch schlechter als die 0,45 der USA) und die Verschiebung seines wirtschaftlichen Fokus weg von reinem Mengen-Wachstum hin zur Entwicklung von Qualität. "Die chinesischen Fünfjahrespläne sind mehr als bloß Wunschdenken“, heißt es in einer aktuellen Roland-Berger-Analyse, "die meisten Ziele sind bislang erreicht worden.“

Übersetzt bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger als ein grundlegendes innenpolitisches Umkrempeln des alten Systems, mit dem die Parteiführung bereits von Mao und Deng indoktriniert wurde: "Wir regieren, ihr pariert - und so werden wir alle reich, die einen früher, die anderen später.“ Das hat lange funktioniert. Immerhin ist es China gelungen, 250 Millionen Menschen aus bitterster Armut zu befreien. "Doch allein mit dieser Doktrin des Wachstums lässt sich in Zukunft nicht mehr regieren“, meint der Ökonom Hu Xingdou. "Zwar sind viele reich geworden. Doch jene, die jetzt noch arm sind, leiden vor allem an ihrer Armut an Rechten.“

Noch ist völlig unklar, welchen Weg Xi einschlagen und wie sich dieser auf die USA und Europa auswirken wird. Eines lässt sich allerdings jetzt schon sagen: Immer mehr Unternehmen, die sich mit Produktionen in China angesiedelt haben, kehren dem Reich der Mitte entnervt den Rücken, wandern in billigere Regionen wie Vietnam und Bangladesch aus oder gleich in die Heimat zurück. Darunter auch der österreichische Hightech-Konzern Kapsch mit seiner kompletten Zugfunkproduktion. Die niedrigen Lohnkosten seien nicht wirklich das Gelbe vom Ei gewesen, begründete Kapsch-Finanzvorstand Ingolf Planer diesen Rückzieher. Denn die Produktion dort sei viel zu weit weg, zu umständlich und zu fehleranfällig gewesen.

An einer Sache ändert das allerdings nichts: China bleibt ein wesentlicher und harter Absatzmarkt. Um in dem Kräftespiel mit den USA mithalten zu können, ist in Europa vor allem Innovationskraft gefragt. "Diese wird immer wieder unterschätzt“, ist etwa Roland Falb, Managing Partner von Roland Berger, überzeugt. Egal ob die USA oder China an der Weltspitze stehen: Europa wird sich in jedem Fall anstrengen müssen. Vielleicht hilft ja die Rückbesinnung auf eine alte Stärke: Hirnschmalz.

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