Yanis (Giannis) Varoufakis, 53, ist griechisch-australischer Ökonom, Autor und Kommentator der Krise. Als Professor für Wirtschaftspolitik lehrt er an der Universität von Athen und an der University of Texas. Im Oktober 2012 führte FORMAT-Redakteruin Martina Bachler ein Interview mit dem Mann, der nun Griechenlands neuer Finanzminister wurde. Das Gespräch, das inhaltlich nach wie vor relevant ist, zeigt die Verzweiflung der Griechen angesichts der Krise und des harten Sparprogramms. Es zeigt außerdem die Position, die Varoufakis in den nächsten Wochen als griechischer Finanzminister in den Verhandlungen mit der Troika, der EZB und politischen Gegnern im Ausland - allen voran der deutschen Kanzlerin Angela Merkel - beziehen wird: Varoufakis ist Befürworter eines Schuldenschnitts und Kritiker der Sparpolitik.
Eine seiner bekanntesten Aussagen ist: "Wenn es in Griechenland kein Wirtschaftswachstum gibt, werden die Kreditgeber keinen Cent sehen." Im Internet betreibt Varoufakis seit Jahren das populäre englischsprachige Blog "yanisvaroufakis.eu". Als Finanzminister werde er in Zukunft weniger bloggen, ließ er seine Leser nun wissen. Aufhören will er damit aber nicht. Im Gegenteil: Er verspricht lesenswerte Einblicke in seine Arbeit als Finanzminister: "Naturally, my blog posts will become more infrequent and shorter. But I do hope they compensate with juicier views, comments and insights."
Varoufakis wird der Ökonom Yanis Dragasakis (66) zur Seite gestellt. Dragasakis wird als stellvertretender Regierungschef die Aufsicht über den gesamten Bereich Finanzen und Wirtschaft haben und auch an den Verhandlungen mit den Geldgebern teilnehmen. Varoufakis und Dragasakis sehen bis dato einen Schuldenschnitt als einzige Lösung für den Abbau des 320 Milliarden Euro großen Schuldenbergs Griechenlands.
Interview mit Yanis Varoufakis
FORMAT: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel besucht zum ersten Mal seit 2007 Griechenland. Aus Angst vor Ausschreitungen riegelt Athen das gesamte Regierungsviertel ab. Was sagt Ihnen das über den Zustand der Eurozone?
Yanis Varoufakis: Die griechische Gesellschaft pendelt zwischen Aufruhr und Depression. Einmal sind die Straßen menschenleer, dann aber braucht es nur eine Kleinigkeit, und es kommt zu kollektiver Wut, zu Ausschreitungen. Das ist eine sehr ernste Situation. Sogar für diejenigen Griechen, die die Regierung unterstützen, symbolisiert Angela Merkel das Elend, das über das Land hereingebrochen ist. Es befindet sich in einer Abwärtsspirale, die Lage wird düsterer. Das stärkt die Rechte, wir haben jetzt eine Nazi-Partei im Parlament. Es ist wie in den 1920er-Jahren. Wir sehen, was da kommt.
Merkel sagt ganz klar, dass Griechenland in der Eurozone bleiben und mehr Unterstützung bekommen soll. Gibt das der griechischen Bevölkerung etwas Hoffnung?
Varoufakis: Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber ich habe lange darüber nachgedacht: Die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland sich wieder erfängt, liegt bei genau null Prozent. Es gibt nichts, was Griechenland, Spanien oder Portugal tun können, um die Wirtschaft wirklich in Schwung zu bringen, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu senken. Nicht, solange diese Länder in der Eurozone gefangen sind. Dass deren Architektur nicht funktioniert, zeigt sich seit dem Zusammenbruch der Finanzwirtschaft 2008. Was die europäische Politik bisher getan hat, waren ja lauter Scheinmaßnahmen.
Heißt das, die Eurozone ist dazu verdammt, auseinanderzubrechen?
Varoufakis: Es sieht alles nicht gut aus. Griechenland und Spanien befinden sich nicht in einer Rezession, sondern in einer Depression, ja, im Koma. Rezessionen gibt es immer wieder, und oft sind sie gar nicht schlecht, weil dadurch ohnehin nicht zukunftsfähige Unternehmen schneller aufgeben. Eine Depression bedeutet aber, dass es nicht nur die schwachen Unternehmen trifft, sondern alle. Ein erfolgreiches griechisches Maschinenbauunternehmen, das 98 Prozent seines Umsatzes im Ausland erzielt, geht jetzt trotz voller Auftragsbücher in Konkurs. Es kann keine Rohstoffe einkaufen, weil es keine kurzfristigen Kredite bekommt, es kann seine Aufträge also nicht erfüllen. Und das Gleiche zeigt sich in Spanien. Und die Sparmaßnahmen würgen die Wirtschaft noch weiter ab.
Hat sich die Situation nicht gerade erst beruhigt? Die Ankündigung der Europäischen Zentralbank, Anleihen von Krisenstaaten zu kaufen, und der eben in Kraft getretene Rettungsschirm ESM haben doch dazu geführt, dass sich die Staaten zumindest günstiger finanzieren können.
Varoufakis: Das war bisher ja immer so. Nach jedem Schritt folgten ein, zwei ruhige Wochen, bis alle erkennen, dass sich genau gar nichts gelöst hat. Die Hilfspakete, der griechische Haircut - das alles wirkte wie Cortison, das die Haut beruhigt, während der unsichtbare Krebs weiterwuchert. Es gab aber eine Ausnahme: die im Juni beschlossene Direkthilfe für Banken. Dadurch hätte es gelingen können, die Bankenkrise von der Staatsschuldenkrise zu trennen, weil nicht mehr ohnehin marode Staaten für ihre maroden Banken einspringen müssten. Aber wie die vergangenen Wochen zeigen, wird es dazu wohl nicht kommen. Deutschland verhindert es.
Worin liegt das Hauptproblem? Wie ließe sich die Krise lösen?
Varoufakis: Durch eine Bankenunion, beschränkte Eurobonds und Wachstumsmaßnahmen. Die Bankenunion ist essenziell, um das System zu stabilisieren. Aber sie muss richtig gestaltet sein: Nur Banken, die auch wirklich eine Chance haben, sich zu erholen, gehören unterstützt. Die anderen wickelt man ab. Die Unterstützung läuft über Beteiligungen: Die EZB oder eine andere zentrale Stelle gibt Geld und bekommt dafür Anteile an den Banken, die sie später mit Gewinn verkauft.
Und was machen wir mit den Schulden?
Varoufakis: Geld zu drucken, um Anleihen zu kaufen, und die Zinsen zu senken, wie es EZB-Chef Mario Draghi vorgeschlagen hat, ist höchstens die drittbeste Lösung. Ich bin aber auch dagegen, alle Schulden zu vergemeinschaften, weil das ein enormes Moral-Hazard-Problem bedeutet und Staaten Strukturreformen verschleppen könnten. Mein Vorschlag: Die EZB könnte etwa im Auftrag Italiens zu niedrigen Zinsen Bonds begeben, um die Schulden, die über dem Maastricht-Kriterium liegen, langsam abzubauen. Das würde die Zinsen senken. Weitet sie das auf andere Krisenstaaten aus, könnte die Eurozone so über einen Zeitraum von 20 Jahren 30 Prozent der Schulden abbauen, ohne dass die anderen Länder mehr Haftungen übernehmen müssten.
Warum tun wir das nicht?
Varoufakis: Zum Teil liegt es an der mangelnden Kompetenz der Politiker. Der Hauptgrund aber ist: Weil sich die Exportländer Deutschland, Finnland und die Niederlande dagegen aussprechen.
Aber diese Länder sprechen sich gleichzeitig dafür aus, über den ESM quasi unbeschränkt zu haften.
Varoufakis: Sie sind eher bereit, Haftungen zu übernehmen, als sich für alle Zeit an den Euro zu binden. Kommt die Bankenunion wirklich, kommen Eurobonds wirklich, gibt es keinen Weg mehr, aus dem Euro auszutreten. Das ist das Dilemma: Um die Krise zu lösen, müssten wir die Eurozone für die Ewigkeit anlegen. Das will Deutschland aber nicht. Denn als Exportland hat es einen klaren Vorteil: Will es irgendwann - aus welchen Gründen auch immer - aussteigen, würde das Kapital nach Deutschland fließen. Es würde ganz sicher nicht zusammenbrechen wie etwa Griechenland. Diese Option will man sich offenhalten.
Stattdessen haben wir nun den ESM. In Ihrem Buch bezeichnen Sie ihn als Äquivalent zu den CDOs, die die Finanzkrise mitverursachten. Worin liegt die Gefahr?
Varoufakis: In den CDOs wurden unterschiedliche Schuldentitel gebündelt. Man übersah, dass diese Titel zusammenhängen: Verliert ein Schuldner seinen Job und kann seine Raten nicht zahlen, erhöht sich über eine Rezession die Wahrscheinlichkeit, dass es weitere Schuldner trifft. Beim ESM ist es gleich: Braucht Italien Hilfe und fällt es als Einzahlerland aus, steigt die Wahrscheinlichkeit für andere Staaten, dass auch sie ausfallen. Das ist schlichtweg verrückt.
In Ihrem Buch sagen Sie nicht nur, dass Europa die falschen Lösungswege nimmt, sondern das Kernproblem vollkommen übersieht. Wofür sind wir blind?
Varoufakis: Wir haben 2008 den Zusammenbruch eines Systems gesehen, der die Weltwirtschaft aus dem langjährigen Gleichgewicht brachte. Mit dem Bretton-Woods-Abkommen von 1944 war ein internationales Währungssystem geschaffen worden. Die Amerikaner gestalteten es so, dass sie die Außenhandelsüberschüsse durch Hilfszahlungen und Investitionen in Europa, vor allem in Deutschland, und in Japan abbauen konnten. Um Absatzländer für ihre Waren zu haben, forcierten die USA auch die Entstehung der EU. Als Bretton-Woods Geschichte war und Amerikas Exporte schwächer wurden, gab es eine neue Idee: Die USA behalten ihre Hegemonialstellung, indem einfach das Überschussgeld der anderen auf die Wall Street und in amerikanische Firmen wie Chrysler fließt. Das hat für alle sehr gut funktioniert. Bis 2008. Und jetzt haben wir lauter Exportländer, aber keine Importländer mehr und vor allem keinen Katalysator. Die Weltwirtschaft wird sich nicht erholen, wenn das so bleibt.
Retten uns nicht die Schwellenländer?
Varoufakis: Nein. China ist ja selbst Nettoexporteur und investiert in amerikanische Anleihen, um hier die Nachfrage zu erhalten. China ist aber sowieso unhaltbar. Das momentane Wachstum beruht auf den Konjunkturmaßnahmen der Regierung und auf Spekulationsinvestitionen. Hier entstehen Blasen.
Wie kommt die Welt wieder in Balance?
Varoufakis: Wir brauchen ein neues G20-Abkommen, das hilft, die weltweiten Geldströme zu lenken. Aber die USA und Europa sind momentan unregierbar. Solche Fragen spielen politisch gerade keine Rolle. Wir werden uns lange nicht erholen.
Buchtipp: Yanis Varoufakis "Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft
Kunstmann 2012, 19,95