Regierung im Krisen-Bunker [Politik Backstage]
Der Berufssoldat a. D. kann in der Ukraine-Krise nicht nur auf gelernte Reflexe vertrauen. Karl Nehammer findet selbst für scharfe ÖVP-Kritiker bislang auch die richtigen Worte: Innenansicht aus dem Regierungsalltag im Dauerkrisenmodus.
Lagebericht: Das Krisenkabinett der Regierung trifft sich mehrmals die Woche, um von den Geheimdienstchefs über Frontverläufe und Kriegsszenarien in der Ukraine informiert zu werden.
Das Ritual gehört für ein paar Dutzend Spitzenvertreter aus dem Wiener Regierungsviertel seit gut zwei Wochen zum Alltag. Nach Betreten der Wiener Rossauer Kaserne haben sie allesamt ihre Handys abzugeben. Da gibt es auch keine Ausnahme für Minister inklusive Bundeskanzler. Denn auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums befindet sich einer der wenigen abhörsicheren Besprechungsräume des Landes. Der neue Sicherheitsbunker, den Karl Nehammer noch als Innenminister in Auftrag gab, lässt noch auf sich warten.
Im Keller des Innenministeriums soll auf 2.000 Quadratmeter ein Krisenlagezentrum für rund 30 Millionen Euro errichtet werden. Auslöser für das Projekt war die Pandemie. Künftig sollen aus dem Polizei-Krisenbunker vis-à-vis dem Kanzleramt bis zu drei Krisen gleichzeitig beurteilt und gesteuert werden können, proklamierte Nehammer im Herbst des Vorjahres: von einem Hochwasser über eine Pandemie bis zum Blackout.
Ein Bedrohungsbild war nicht auf der Agenda bei der Planung des neuen Krisenbunkers der Regierung: Mit einem Krieg vor der Haustür und dessen dramatischen Folgen für die Energie- und Sicherheitslage hatten im Herbst des Vorjahrs weder der damalige Innenminister Nehammer noch sonst jemand in der Regierung gerechnet.
Drei Geheimdienste
am Tisch des Krisenkabinetts
Für die vertraulichen Sitzungen des Krisenkabinetts muss jetzt der Lageraum des Verteidigungsministeriums in der Rossauer Kaserne herhalten. Hier treffen sich mehrmals die Woche Vertreter des Kanzleramts und der betroffenen Ministerien, oft unter Teilnahme der Ressortchefs. Anfang März drängten sich rund 60 Personen in dem Raum, als es darum ging, zwischen Bund und Ländern den Umgang mit dem Flüchtlingsstrom, den Europa zu erwarten hat, abzuklären.
Mit am Tisch sitzen bei jeder Zusammenkunft die Spitzen der drei österreichischen Geheimdienste: Heeres-Nachrichtenamt (HNA), Heeres-Abwehramt (AbwA) und der neuen Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst (DNS), Nachfolger des skandalumwitterten BVT im Innenministerium.
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Deren Lageberichte über Frontverlauf und Kriegsszenarien stehen immer am Beginn der Zusammenkünfte des Krisenkabinetts. Besonders geschätzt sind die Rapports von HNA-Chef Sascha Bosezky. "Das HNA ist sehr gut informiert, die Berichte sind sehr professionell", berichtet ein Teilnehmer.
Als aufmerksamen und sachkundigen Zuhörer erlebten jüngst auch Vertreter aller Parteien den Bundeskanzler im Nationalen Sicherheitsrat. Das vertrauliche Gremium wird in Krisenlagen einberufen, um alle politischen Kräfte des Landes auf dem Laufenden zu halten und einzubinden. "Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation. Da ist es wichtig, dass alle einen ähnlichen Wissensstand haben", sagt ein ÖVP-Spitzenmann. Denn im Regierungsviertel geht man davon aus, dass der Ukraine-Krieg auch Österreich noch lange in Atem halten wird.
Unerwartetes Lob
für den ÖVP-Kanzler
ÖVP-Vertreter berichten in einer Mischung aus Stolz und Genugtuung, dass sich selbst scharfe Regierungskritiker wie SPÖ-Klub-Vize Jörg Leichtfried und Neos-Mandatar Helmut Brandstätter in der vertraulichen Runde bei Karl Nehammer ausdrücklich für die "inhaltlich sehr klare und emotional glaubwürdige" Haltung in Sachen Ukraine-Krieg bedankt hätten.
Seit dem Überfall von Wladimir Putin auf die Ukraine (über die aktuelle Lage informieren wir im Liveblog) muss die österreichische Regierung nicht nur bei der Wahl des richtigen Orts für abhörsichere Sitzungen, sondern auf vielen Ebenen improvisieren. Bis jetzt, bekunden selbst Oppositionspolitiker, kommt sie dabei mehr als passabel über die Runden. Mehr Wohlwollen denn je gibt es auch vom Koalitionspartner.
Nach zwei Jahren Corona, drei Kanzlern und drei Pandemie-Ministern war die Stimmung regierungsintern bereits seit Monaten mehr schlecht als recht. Die ÖVP ist nach dem Sturz ihres Erlösers aus der undankbaren Rolle des ewigen Zweiten schwer zerrüttet. Die in vielen einflussreichen Positionen nach wie vor fest verankerten Anhänger von Sebastian Kurz sinnen auf Gelegenheit zur Rache an den Grünen.
Karl Nehammer suchte bislang den schwelenden Konflikt klein zu halten: Im ÖVP-Management haben Kurz-Fans weiterhin das Sagen. Im Parlament, in Minister-Vorzimmern und Länderorganisationen gibt nach wie vor - die in jahrelanger Vorarbeit installierte - JVP-Truppe den Ton an. Nur in seiner unmittelbaren Umgebung hat der neue Regierungs-und Parteichef persönliche Vertrauensleute installiert.
"Der Krieg schweißt
die Koalition neu zusammen"
"Die neue Krise rund um den Ukraine-Krieg schweißt die Koalition neuerlich zusammen", sagt ein ÖVP-Regierungsinsider: "Die Stimmung zwischen den beiden Partnern ist wieder ganz gut, auch weil es zwischen Karl Nehammer und Werner Kogler keine Bewertungsunterschiede in der Ukraine-Frage gibt." Hinter den Kulissen gibt es von grünen Spitzenleuten gar Töne zu hören, die unter Sebastian Kurz in Richtung Kanzleramt nie zu vernehmen waren: "Karl Nehammer kennt sich aus, macht das mit großer Verantwortung und führt Österreich in einer breit akzeptablen Tonalität durch diese Krise. Auch in der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen agierte er überraschend offen und authentisch."
Bis vor Kurzem dominierte noch eine andere Lesart: Der U-Ausschuss werde nicht nur zur Feuerprobe für Nehammer, sondern zur ersten schweren Belastungsprobe für das Kabinett Nehammer-Kogler. Denn die SPÖ hatte massiv darauf gedrängt, Nehammer als einen der ersten Zeugen in den ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss zu laden. Die unausgesprochene Spekulation: Zu Beginn des U-Ausschusses liegen noch nicht alle Akten und vor allem Chats auf dem Tisch. Die Chance (aus Sicht der Opposition) oder die Gefahr (aus Sicht der ÖVP), nachträglich bei einer Falschaussage ertappt zu werden, ist bei Ausschuss-Start daher am höchsten.
Sebastian Kurz wurden so die ominösen Postenschacher-Chats von Thomas Schmid in eigener Sache zum Verhängnis. Auch Kurz wurde bald nach Ausschussstart erstmals zu seiner Befragung geladen. Das Verfahren gegen Kurz wegen falscher Zeugenaussage in Sachen Schmid und ÖBAG-Postenvergabe ist nach wie vor offen. Nehammer suchte die drohende Gefahr mit einer Strategie zu umschiffen, für die es keinen Demokratie-Schönheitspreis gibt, die aber ihre Wirkung nicht verfehlt haben dürfte. Die ÖVP-Mandatare zettelten bei jeder konkreten kritischen Frage - unter tatkräftiger Beihilfe des Ausschussvorsitzenden Wolfgang Sobotka - langwierige Geschäftsordnungsdebatten an. Nehammer blieben so viele heikle Fragen erspart. Die wenigen, mit denen die Abgeordneten bei Sobotka & Co. durchkamen, beantwortete der Kanzler und ÖVP-Chef einsilbig und damit unangreifbar.
Die Medien-Regisseure am Ballhausplatz spielten zudem den Auftritt mit allen Kräften als Episode herunter. Nehammer verbat sich Fotos und Kameraschwenks aus dem Sitzungssaal. Er enthielt sich sowohl davor als auch nach Ende der vierstündigen Befragung jeglichen Kommentars. Sein Sprecher ließ zudem demonstrativ wissen, dass Nehammer selbst eine Ausschuss-Pause dafür nutze, um in Sachen Ukraine-Krise zu telefonieren, konkret mit dem bulgarischen Regierungschef-Kollegen. Unmut und Frust ob des wortkargen Auftritts entluden sich so primär an den ÖVP-Leuten im Ausschuss.
Eiserner Parteisoldat
und empathischer Krisenkanzler
Karl Nehammer bewies innerhalb eines Tages, dass er sowohl eiserner Parteisoldat als auch empathischer Krisenkanzler kann. Noch am Morgen seines U-Ausschuss-Auftritts hatte er nach der Krisenkabinettssitzung staatsmännisch für Rettungsmaßnahmen für die belagerten Städten in der Ukraine geworben: "Humanitäre Korridore sind jetzt aus Gründen der Menschlichkeit das Gebot der Stunde." Auf der unbequemen Zeugenbank im U-Ausschuss setzte er kurz danach unbeirrbar auf Pokerface und Parteischotten dicht.

Arbeitsbesuch. Kanzler Nehammer und Energieministerin Gewessler in Katar. Da blitzte das Leitmotiv der Ära Kurz wieder auf: Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht.
Anders als zu Zeiten von Sebastian Kurz gingen auch die Grünen diesmal mit ihrem Koalitionspartner im U-Ausschuss um. Fraktionssprecherin Nina Tomaselli zollte dem Kanzler öffentlich "Respekt, dass er sich angesichts der angespannten Lage den Fragen stellen wird". Auch Neos-Fraktionssprecherin Stephanie Krisper ließ wissen, sie hätte Verständnis dafür gehabt, wenn Nehammer seinen Auftritt im Ausschuss verschieben lassen hätte.
Wie lange der neue Umgangston mit dem ÖVP-Kanzler von Teilen der Opposition, aber auch vor allem innerhalb der Regierung halten wird, ist noch offen. " Nehammer punktet damit, dass er weitaus offener als Kurz auf andere zugeht, geschichtlich sehr versiert ist und auch zuhören kann", so der Tenor in vielen Parteilagern im Regierungsviertel. "Uns fällt auf, dass auch die schärfsten Kurz-Kritiker mit Nehammer offener und normaler umgehen als mit ihrem Dauerfeindbild", resümiert ein enger Kurz-Vertrauter, der nach wie vor eine Schlüsselrolle spielt.
Der gelernte Informationsoffizier und Rhetoriktrainer setzt nun auch auf der Medienbühne auf Gesten der ausgestreckten Hand. Binnen weniger Tage gab er sowohl der "Süddeutschen Zeitung" als auch dem "Standard" ausführliche Interviews. Beide stehen ganz oben auf der Liste jener Medien, die Sebastian Kurz als unkontrollierbar abgetan hatte und daher, wo immer er konnte, demonstrativ geschnitten hatte.
Türkiser Propaganda-
Trip à la Kurz
Dass Nehammer freilich keine Scheu hat, weiter auch auf Rezepte aus der Kurz'schen Propagandaküche zu setzen, stellt er dieser Tage mit seinem Trip in die arabische Welt unter Beweis: Eine Reise, die noch vor dem Krieg auf kleiner Flamme geplant war, wurde vom Kanzler gekapert und zur spontanen Rettungsaktion aus der drohenden Energiekrise neu verpackt. Die tatsächliche Ausbeute blieb überschaubar. In Abu Dhabi wurde ein "Letter of Intent" für künftige Kooperationen unterzeichnet.
"Die Unterschrift ist ein Meilenstein für Österreich in die Unabhängigkeit von russischem Gas", proklamiert Elisabeth Köstinger, die Nehammer als "Rohstoff- Ministerin" begleitete. "Das ist Schwachsinn", kontert der renommierte Energiefachmann Johannes Benigni: "Es bringt uns überhaupt nix, nach Abu Dhabi zu fahren. Der Markt funktioniert nicht so." Die Lieferländer im arabischen Raum hätten derzeit null freie Kapazitäten, um das Russland-Gas zu ersetzen. Österreich müsste zudem erst eine Infrastruktur für den Import von Flüssiggas schaffen.
Da ist es also wieder, das Leitmotiv, das die Ära Kurz prägte: Nicht das Erreichte zählt, sondern das Erzählte reicht. Nehammers Entourage besteht darauf, dass die ursprüngliche Reise kleiner und kürzer geplant war. Und: Wann, wenn nicht jetzt, müsse der Kanzler jede Chance nutzen.
Denn Spitzendiplomaten am Wiener Ballhausplatz geben dieser Tage intern als Devise aus: "Die Realpolitik hat uns eingeholt. Es kommen nun tektonische Plattenbewegungen in Gang. Jetzt müssen wir unser Lebensmodell gegen die Putins und Xi Jinpings verteidigen, wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder weiter in Frieden und Freiheit leben können."
Der Autor
Josef Votzi
Josef Votzi ist einer der renommiertesten Politikjournalisten des Landes. Der Enthüller der Affäre Groër arbeitete für profil und News und war zuletzt Politik- und Sonntagschef des "Kurier". Für den trend verfasst er jede Woche "Politik Backstage".
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