Bundespräsident Heinz Fischer im FORMAT-Interview

Heinz Fischer im traditionellen FORMAT-Interview zu Jahresende: Der Bundespräsident kritisiert erstmals deutlich den „Reformstau“ und skizziert, wie er jetzt Druck für Reformen aufbauen will.

FORMAT: Herr Bundespräsident, Hugo Portisch, Mitglied Ihres Personenkomitees, sagt in einem „Kurier“-Interview, Österreich brauche große Reformen auf allen Ebenen, sonst könne das Land bald zusperren. Sind Sie auch dieser Meinung?

Fischer: Ich habe das Interview meines Freundes Hugo Portisch mit großem Interesse gelesen. Ich teile seine Meinung, dass wir beträchtlichen Reformbedarf haben, und es ist richtig, das einzumahnen. Meine Aufgabe als Bundespräsident sehe ich darin, mich weder den Schonfärbern noch den Fundamentalkritikern anzuschließen. Ich glaube, dass Österreich nach wie vor ein Land mit zahlreichen wertvollen und positiven Faktoren ist. Wir bestehen den Vergleich mit anderen Ländern auf vielen Gebieten in hervorragender Weise. Aber wir haben eine Schwäche, neue Themen in Angriff zu nehmen. Diese Schwäche müssen wir überwinden.

FORMAT: Meinen Sie damit alte Themen, bei denen man jetzt draufkommt, dass besonderer Handlungsbedarf besteht. Etwa bei der Bildung?

Fischer: So ist es. Es gibt eine Reihe von Problemen, über die seit Jahren diskutiert wird. An denen wird gekaut wie an einem Kaugummi. Aber der Wille zum letzten Pass, um in der Fußballersprache zu sprechen, fehlt. Das ist bei der Schulreform so, bei der Aufgabenreform zwischen Bund und Ländern, beim Gedanken der Förderung der Leistung in Kombination mit sozialer Gerechtigkeit. Und das ist wahrscheinlich auch beim Klimaschutz so.

FORMAT: Um im Fußballerbild zu bleiben: Bei der Schule geht es ja nicht um den letzten Pass, sondern darum, überhaupt einen Spielaufbau zustande zu bringen. Beim Pisa-Debakel dominieren parteipolitische Schuldzuweisungen.

Fischer: Ich würde aber nicht nur auf die letzten drei Tage, sondern auf die letzten drei Jahre schauen …

FORMAT: … da ist auch nichts passiert …

Fischer: … und meinen, dass es vernünftige Modelle für eine Bildungsreform gibt. Und auch gute Ansätze im Regierungsprogramm. Es gibt etwa die Erkenntnis, dass das vermehrte Anbieten von ganztägigen Schulformen dem Bildungsniveau insgesamt nützt. Ebenso, wenn eine Schulform bis zum 14. Lebensjahr geschaffen wird, wo die Türen für alle offen stehen. Diese Bausteine liegen auf dem Tisch. Jetzt muss man sie zu einem sinnvollen Bildungsgebäude zusammensetzen.

FORMAT: Sie umreißen sehr elegant die Gesamtschule. Vor einer Woche hat Vizekanzler Pröll gesagt, mit seiner Partei werde das nicht kommen. In der Bevölkerung kommt nur die Ablehnung der Ideen des jeweils anderen an.

Fischer: Genau das müssen wir überwinden.

FORMAT: Und wie?

Fischer: Indem wir die Interessen der Schüler, der Eltern und der Lehrer so deutlich herausarbeiten, dass Druck entsteht, sich diesen Interessen nicht entgegenzustellen. Und zwar gleichgültig, um welche Partei es sich dabei handelt.

FORMAT: Uns scheint, die Regierungsparteien negieren diesen Druck.

Fischer: Es gibt innerhalb der Regierungsparteien sehr konstruktive Diskussionen. Sie kommen ja manchmal auch an die Oberfläche. Meine Aufgabe ist es nicht, die eine oder andere Partei an den Pranger zu stellen. Ich möchte den Zusammenhalt der politisch konstruktiven Kräfte fördern und gemeinsame Ziele in den Vordergrund rücken. Ich kann im Lichte von Pisa Regierung und Parlament nur aufrufen, zu erkennen, dass Schritte im Bildungsbereich notwendig sind – unter Berücksichtigung der Experten und der Erfahrungen jener Länder, die bei den Pisa-Untersuchungen die besten Plätze einnehmen.

FORMAT: Haben Sie den Eindruck, dass Sie gehört werden?

Fischer: Ich nehme an – zumindest gelesen (schmunzelt, Anm.). Ich weiß, dass das Bremsen im Bildungsbereich ideologische Wurzeln hat. Und die halte ich für überwindbar. Wir werden in zwei Jahren im Bildungsbereich weiter sein als heute.

FORMAT: Sind Sie betreffend einer Föderalismus- und Verwaltungsreform ebenso zuversichtlich?

Fischer: Das wird leider als Machtfrage abgehandelt. Und wenn es um Machtfragen geht, wird es schwierig. Da spielt dann nämlich immer auch noch die Frage mit, wie viele „Divisionen“ hinter einem Argument stehen. Daher ist die Durchsetzung einer sinnvollen modernen Aufgabenteilung das noch schwierigere Thema.

FORMAT: Kürzlich hat der Wiener Bürgermeister in einem Interview mit uns gemeint, er habe schon Tausende Stunden mit dem Österreich-Konvent verschwendet. Er gehe erst dann wieder zu Sitzungen, wenn die drei wesentlichen Fragen geklärt sind: „Was will ich? Wer zahlt es? Wie setze ich es um?“ Teilen Sie diese Meinung?

Fischer: Nein, weil ich den Österreich-Konvent für keine Verschwendung halte. Ein bisschen einen Unterschied darf es zwischen dem Michl und dem Heinz ja geben. Gerade um seine Fragen zu beantworten, muss ich mich ja an einen Tisch setzen. Diese zentralen Fragen werden sich nicht von selbst lösen.

FORMAT: Sie sehen also auch den Reformstau.

Fischer: So ist es. Ich will das Land, so wie es heute ist, nicht schlechtmachen. Ich bin stolz auf Österreich. Aber: Wer ein Land stabil halten will, muss es in Bewegung halten. Dieses berühmte Zitat aus dem „Leoparden“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa ist mein Leitmotiv. Wir haben viele starke Seiten, es sind nicht nur überall Dilettanten am Werk. Aber die Stärken müssen wir weiterentwickeln und die Schwächen überwinden.

FORMAT: Noch einmal Häupl im O-Ton: „Es stellt sich schön langsam die Frage: Wozu braucht das Land eine große Koalition?“

Fischer: Um den Österreichern die Erfahrung zu ersparen, wie sehr die anderen Varianten nicht funktioniert haben.

FORMAT: Aber Sie können nachvollziehen, dass immer weniger Bürger den Satz „Nur eine große Koalition löst die großen Probleme“ unterschreiben?

Fischer: Mein Satz lautet: „Die große Koalition hat die Aufgabe, die großen Probleme zu lösen.“ Und die Chance dazu. Aber die Leistungsbilanz nach den ersten eineinhalb Jahren ist noch nicht so, dass man sagen könnte: „ Ausgezeichnetes Halbjahreszeugnis.“ Das haben wir nicht erreicht.

FORMAT: Zum Bundesheer: Sind Sie als Oberbefehlshaber für die Abschaffung beziehungsweise Aussetzung der Wehrpflicht wie in Deutschland?

Fischer: Ich werde knapp vor Weihnachten ein ausführliches Gespräch mit dem Verteidigungsminister über den letzten Stand der Dinge führen. Die allgemeine Wehrpflicht hat gute Gründe, und sie hat sich mehr als 50 Jahre bewährt. Und sie hat mit dem Zivildienst eine wertvolle und wichtige Ergänzung. Gibt es ein anderes Modell, das zu gleichen Kosten ein besseres Resultat liefert, werde ich der Letzte sein, der am zweitbesten Modell festhält.

FORMAT: Sehen Sie ein besseres?

Fischer: Nein.

FORMAT: Zum Budget: Ist es Ihrer Meinung nach ausgewogen genug, um die Konsolidierungsziele zu erreichen und die Erhaltung der Sozialsysteme nicht zu gefährden?

Fischer: Das Budget 2011 dient dem Ziel der Konsolidierung. Nicht allzu viele Staaten werden im übernächsten Jahr die Maastricht-Ziele erreichen. Dass die Grundpfeiler unseres Sozialsystems in der Krise gehalten haben, die Kaufkraft nicht gesunken ist und wir die zweitniedrigste Arbeitslosenrate in Europa haben – das ist schon bemerkenswert. Dieses Kompliment muss man der Regierung und dem ganzen Land machen. Aber man muss auch auf die Psychologie achten. Wir sind gut beraten, einerseits auf die Ökonomen zu hören, andererseits darauf zu achten, dass sich die Einkommensverteilung nicht zum Nachteil der sozial Schwächeren verändert.

FORMAT: Die Befürchtungen haben Sie?

Fischer: Diesen Befürchtungen muss man entgegentreten.

FORMAT: Die Reichen sollten mehr Steuern zahlen?

Fischer: Diesen pauschalen Satz werden Sie aus meinem Mund nicht hören. Aber ein Beispiel: Vor drei Jahren hat der Verfassungsgerichtshof die damalige Form der Erbschaftssteuer für nicht verfassungskonform erklärt und die Regierung aufgefordert, das zu reparieren. Die Regierung hat sich entschlossen, die Erbschaftssteuer auslaufen zu lassen. Und Kritikern, zu denen ich auch gezählt habe, entgegnet: Wegen 200 Millionen Euro Ertrag zahlt sich die Reparatur der Erbschaftssteuer gar nicht mehr aus. Wenn ich mir jetzt vorstelle, wie viele Ungerechtigkeiten etwa im Familienbereich oder im außeruniversitären Forschungsbereich man sich jetzt mit 200 Millionen Euro per annum ersparen könnte, denke ich mir: Da hat es seinerzeit an der notwendigen Sensibilität für die Bedürfnisse der Bevölkerung gefehlt.

FORMAT: Ist Österreich nicht ohnehin ein besonders ausbalanciertes Land.

Fischer: Wir sind zu Recht stolz auf unser Sozialsystem. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft muss weiter Leitmotiv sein – vor allem wenn wir internationale Fehlentwicklungen der letzten Jahre wie etwa exorbitante Gewinne aus Finanztransaktionen betrachten. Die soziale Komponente in der Marktwirtschaft muss verteidigt werden.

FORMAT: Tendenziell sind Sie schon der Meinung, dass ein bisschen am falschen Platz – etwa bei Familien – gespart wurde und einnahmenseitig auf das eine oder andere verzichtet wurde?

Fischer: Ist das nicht eine Suggestivfrage? Ich glaube, dass das Budget im Großen und Ganzen vernünftig und begründbar ist. Bei einer anderen personellen Zusammensetzung der Regierung wäre das Resultat auch nicht viel anders gewesen.

FORMAT: Sie sind jetzt in Ihrer zweiten und letzten Amtsperiode. In den ersten sechs Jahren wurde Ihnen allzu große Konsensorientierung vorgeworfen. Viel kantiger sind Sie nicht geworden. Warum eigentlich nicht?

Fischer: Ich folge meinem Gewissen und meiner Überzeugung: Die Aufgabe des Bundespräsidenten ist, konsensorientiert zu sein und dem Land Rückhalt zu geben. Ein streitsüchtiger Bundespräsident auf Egotrip dient dem Land nicht. Mir sind unsere gemeinsamen Werte wichtig. Wenn einmal der Bundespräsident aufhört, unser Land positiv zu beurteilen, wer will es dann tun?

FORMAT: Zu Europa: Sehen Sie den Euro gefährdet?

Fischer: Europa insgesamt ist 2009 und 2010 durch schwierige Situationen gegangen. Die Großwetterlage war stürmisch. Ich teile aber nicht die Einschätzung, dass der Euro und infolgedessen die Eurozone und die gesamte EU auseinanderbrechen könnten. Dazu haben wir zu viel Verantwortungsbewusstsein und auch Selbstbewusstsein. Die Situation ist nicht einfach, aber die Eurozone ist stark genug, die Schlechtwetterturbulenzen zu überwinden. Europa ist stärker, als wir glauben.

FORMAT: Besteht nicht die Gefahr des Auseinanderdriftens der EU: Die Bürger des reichen Nordens wollen dem verschuldeten Süden keine Milliarden nachwerfen, die Bürger im Süden protestieren gegen harte Sparprogramme.

Fischer: Ich leugne ja nicht die Probleme, die es gibt. Aber in Europa gibt es auch Bereitschaft zu verantwortungsvoller Politik. Ich habe vergangene Woche ein langes Gespräch mit dem griechischen Premierminister Papandreou geführt. Er hat sicher eine der schwierigsten Aufgaben. Mich hat es beruhigt, mit welcher Klarheit und mit welchem Verantwortungsbewusstsein er agiert. Wir sind stark genug, wenn wir unsere gemeinsamen Möglichkeiten nützen.

FORMAT: Können auf Dauer Volkswirtschaften mit so unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit wie Griechenland und Deutschland mit einer Währung leben?

Fischer: Dieses Problem war ja von Anfang an allen bewusst. Es gehört zu den Zielen und Aufgaben der Union, die Kohärenz zu stärken. Das ist doch eines der Kernziele: weniger entwickelte Randgebiete an den europäischen Durchschnitt heranzuführen. Nähern wir uns diesen Zielen, werden die von Ihnen beschriebenen Probleme geringer.

FORMAT: Da geht es nicht um Randgebiete, sondern um ganze Staaten.

Fischer: Ja, um Staaten am Rande der Union. Ich behaupte ja nicht, dass die EU einen Blueprint für sämtliche Probleme der nächsten 20 Jahre hat. Aber hätte die jüngste Krise Europa ohne gemeinsame Währung getroffen, wäre eine wirklich große Katastrophe entstanden. Wir haben keinen Grund, europäisches Selbstvertrauen an der Garderobe abzugeben.

FORMAT: Wir danken für das Gespräch.

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