Ulrich Seidl und Veronika Franz: Verstörung zum Quadrat

Bei den Filmfestspielen in Venedig ist Österreich mit gleich zwei verstörenden Filmen des Duos Ulrich Seidl und Veronika Franz vertreten. FORMAT bat das Paar vorab zum Interview über Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, Erfolg und die Lust am Abgründigen.

Ulrich Seidl und Veronika Franz: Verstörung zum Quadrat

Format: Herr Seidl, Ihre Lebensgefährtin, Veronika Franz, ist seit Jahren ihre engste Mitarbeiterin und hat nun gemeinsam mit Severin Fiala ihren ersten eigenen Spielfilm vorgelegt, der neben Ihrem Film in Venedig Weltpremiere hat. Was überwiegt: Stolz oder die Angst vor dem Feind im eigenen Bett?

Ulrich Seidl: Konkurrenz wäre blödsinnig. Das ist Erfolg auf zweifacher Seite. Für ihren ersten Spielfilm und für mich als Produzenten. Für uns beide heißt das, wir gehen an zwei Tagen hintereinander über den roten Teppich. Das ist ein Novum.

Filmkritikerin, Lebens- und Arbeitspartnerin - wie funktioniert die Aufteilung?

Veronika Franz: Der Weg, den ich beschreiben müsste, ist 18 Jahre lang. Ich habe den Ulrich als Filmkritikerin kennengelernt, hatte aber vom Filmemachen selber überhaupt keine Ahnung. Alles was ich gelernt habe, habe ich von ihm gelernt, über Jahre und in vielen Funktionen. Begonnen hat es mit Recherche, Assistenz und Casting, dann wurde ich Co-Autorin.

Was heißt "gemeinsam“ Schreiben?

Franz: Hin- und hermailen. Der Ulrich braucht für sich Ruhe und Freiraum. Er ist ein Frühaufsteher, der um fünf Uhr früh zu schreiben und zu denken beginnt, und ich bekomme dann um neun Uhr früh die ersten Seiten …

Seidl: Wir sitzen also nicht zusammen und denken und formulieren als Einheit, sondern …

Franz: Das ist hierarchisch. Der Ulrich hat seinen eigenen Kosmos und Weg gefunden, wie er die Welt und den Film sieht. Da habe ich Mitsprache, aber keine gleichberechtigte Stimme. Insofern habe ich bei meinem Film mit meinem Co-Regisseur und Co-Autor Severin Fiala, übrigens ein Neffe von Ulrich Seidl, völlig konträr gearbeitet. Da haben wir alles gemeinsam gemacht, geschrieben, inszeniert und entschieden.


Im Keller. In seinem Essayfilm unternimmt Ulrich Seidl (Kamera: Martin Gschlacht) einen Streifzug durch österreichische Keller. Am 18. 9. wird der Film das /slash-Festival in Wien eröffnen. Ab 26. 9. läuft er im Kino.

Gibt es definierte arbeitsfreie Zeit, wenn man als Paar zusammen lebt und arbeitet?

Seidl: : Gibt es nicht. Auch wenn wir mit den Kindern wohin fahren, was man gemeinhin als Urlaub bezeichnen würde, stehe ich in der Früh auf und arbeite.

Franz: Daher braucht er auch immer ein eigenes Zimmer für seine Rituale. Das heißt nicht, dass man später nicht gemeinsam auf den Berg geht oder an den Strand …

Hat sich die Energie dieses eingespielten Vorgangs im Zuge Ihres eigenen Projekts nicht verlagert?

Franz: Natürlich. Scherzhaft hat er schon angemerkt, dass ich jetzt weniger für ihn arbeiten kann. Ich habe zum Beispiel für "Im Keller“ kein Casting mehr gemacht. Aber mein Film ist nun fertig und schon bei Ulrichs nächstem großen Projekt über den Räuberhauptmann Grasel, zu dem er noch mit Michael Glawogger das Drehbuch geschrieben hat, bin ich wieder mit voller Kraft dabei. Als Lebensgefährtin muss man ja ohnehin immer 150 Prozent arbeiten, weil sonst alle anderen blöd reden.

Ulrich Seidl hat seine eigene Arbeitsweise und visuelle Sprache entwickelt, die Filme haben ein sehr genaues Drehbuch, wenn auch nicht in Dialogen geschrieben, es gibt ein minutiöses Casting für einen Mix aus Laien und Schauspielern - wie kann man sich dann für ein eigenes Projekt künstlerisch abgrenzen oder eine eigene Handschrift finden?

Franz: Ulrich setzt sich stark mit dem Begriff der Authentizität auseinander. Uns geht es mehr um Glaubwürdigkeit. "Ich seh Ich seh“ ist eine fiktive Geschichte, die der Zuschauer aber glauben können muss. Der Film erzählt von einer Frau, die nach einer Schönheitsoperation nach Hause kommt, und ihre Zwillingsbuben beginnen zu bezweifeln, dass das ihre Mutter ist. Es geht um existenzielle Dinge wie Urvertrauen, Muttersein und Identität. Kurz: Wir erzählen eine Horrorgeschichte, die einem alltäglichen Kontext entspringt. Was ich natürlich bei Ulrich gelernt habe, ist, wie man mit Laien arbeitet. Wir haben neben Susanne Wuest zwei Kinder als Hauptdarsteller, elfjährige Zwillinge, mit denen wir den Text spielerisch erarbeitet haben. Niemand hat bei unserem Film etwas auswendig gelernt. Außer den Schlüsselsätzen. Niemandem wurde das Ende verraten. Aber ich hatte natürlich einen genauen Bauplan.

Seidl: Zum Unterschied von mir. Ich weiß oft zu Beginn eines Films noch nicht, wie er endet.

Franz: Wie der Ulrich Filme macht, ist eine Art zu leben, man er-lebt etwas dabei. Vieles entsteht beim Dreh. Ich habe einen Schock bekommen, als ich das erste Mal an einem anderen Filmset war. Bei konventionellen Filmdrehs arbeitet man ja einen davor genau niedergeschriebenen Plan ab, nach exakter Zeitvorgabe.

Seidl: Hochprofessionell! Das ist das Normale und finanziell meistens gar nicht anders möglich. Ich bin in einer Ausnahmesituation, anders drehen zu können. Die habe ich mir aber auch hart erarbeitet. Nachdem jeder Film bisher ein Erfolg war, ist es nun nicht mehr schwer, Finanzierer zu finden.

Was hat Sie daran gereizt, sich mit der Beziehung der Österreicher zu ihrem Keller auseinanderzusetzen?

Seidl: Der Auslöser für mein Interesse liegt schon sehr lange zurück. Als wir 2001 für den Film "Hundstage“ Schauplätze in den Vorstädten gesucht haben, habe ich bei vielen Einfamilienhäusern entdeckt, dass fast immer die Kellerräumlichkeiten großzügiger als die Wohnzimmer angelegt werden: Man zieht sich in der Freizeit seine Trainingshose an, geht in den Keller und kann da machen, was man will. Später sind dann erst die Fälle Fritzl und Kampusch publik geworden.

Wie hat man sich die Recherche vorzustellen?

Seidl: Schwierig. Man sucht ja Abgründiges, Verbotenes, Obsessionen, Perversionen, nicht den, der die Eisenbahn im Keller aufstellt. Solche Sammler findet man schnell, davon gibt es viele. Auch solche mit Sauna, Raucher- oder Partykeller. Das wäre zu oberflächlich. Viele Mitarbeiter von uns sind einfach von Haus zu Haus gegangen. Mit Flugzetteln. Es spielt aber immer auch der Zufall eine Rolle. Leute, die sich gerne darstellen, interessieren mich am wenigsten. Das ist meistens verstellt. Und macht im Film nicht betroffen.


Ich seh ich seh. Der Horrorfilm von Veronika Franz und Severin Fiala erzählt zur Musik von Olga Neuwirth von einer Schönheitsoperation, nach der ein Zwillingsbrüderpaar seine Mutter nicht mehr erkennt, und wird im Dezember oder Jänner in die heimischen Kinos kommen.

Wie bringt man andere dazu, Verborgenes zu zeigen?

Seidl: Indem man sie überredet, überzeugt. Man lernt einander kennen. Ich spiele immer mit offenen Karten. Ich habe ja nichts zu verheimlichen.

Sie galten lange als Nestbeschmutzer, Voyeur und Sozialpornograph, viele ihrer Filme sind sehr kontroversiell aufgenommen worden. Ist durch den internationalen Erfolg die Rezeption eine andere geworden?

Seidl: Spätesten seit dem Film "Hundstage“ bin ich rehabilitiert. Die Kritiker sind weniger geworden. Einige sind konvertiert, von Feinden zur Freunden. Wenn man konsequent arbeitet, setzt man sich irgendwann einmal durch. Für die Generation nachkommender Filmschaffender zwischen Dänemark und Griechenland bin ich jetzt Vorbild. Mehr international als hierzulande. Erfolg in Österreich ist ja immer erst durch Erfolg im Ausland möglich.

Seidl-Filme sind Blicke tief unter die geschönte Oberfläche. Wie wichtig ist Ihnen, dass sie auch so gesehen werden und nicht bloß als Freakshow? Gibt es so etwas wie eine Mission Ihrerseits?

Seidl: Ich bin kein Missionar, in dem Sinn, dass ich jemanden belehren will, aber ich will etwas bewirken. Meine Filme sind nicht nur Entertainment, sondern sollen die Leute berühren, verstören, amüsieren. Es geht darum, dem Zuschauer zu sagen: Auch du bist einer dieser Welt.

Die "New York Times“ hat Österreich als "World Capital of Feel-Bad Cinema“ bezeichnet. Warum haben österreichische Filme eine Affinität zur Trostlosigkeit?

Seidl: Der Begriff Trostlosigkeit gefällt mir gar nicht. Das sagen die, die nicht genau hinschauen wollen und immer alles beschönigen. Was ich zeige, ist unser Leben. Aber viele wollen das nicht sehen, weil dann müssten sie sich mit sich selbst beschäftigen, und das ist unangenehm. Ich würde mir meine Filme auch nicht zu jeder Zeit anschauen. Der österreichische Film ist einfach direkter und scheut sich nicht, die Dinge zu zeigen, wie sie sind. Das mag auch eine Tradition in der Kunst sein von den Aktionisten bis zu den frühen Experimentalfilmern.

Franz: Für mich heißt Trostlosigkeit auch Leere, diesbezüglich finde ich die meisten Hollywoodfilme trostlos. Es geht ja immer um die Frage, was ich im Kino will: Will ich mich zwei Stunden lang mit einer Nullgeschichte von "Transformers“ zudröhnen lassen? Das finde ich trostlos. Was Ulrichs Filme machen, ist, gegen Tabus anzugehen. Gegen das Verdeckte. Sie sind unbequem, verstören im Positiven und bringen in der Nachwirkung im besten Fall eine Erkenntnis.

Sie sind neben Michael Haneke der Topplayer der heimischen Filmlandschaft. Worin zeigt sich der Erfolg? In Besucherzahlen schlägt er sich ja nicht unbedingt nieder.

Seidl: Der österreichische Film ist seit einigen Jahren international sehr erfolgreich. Wie ich noch auf die Filmakademie gegangen bin, in den 80er-Jahren, war der österreichische Film praktisch unbekannt. Wir haben uns etwas erarbeitet, was einzigartig ist, auch im Vergleich zum großen Nachbarn Deutschland, wo es diesen künstlerischen Erfolg nicht gibt. Der österreichische Kinozuschauer macht prozentuell sehr wenig aus. Aber der Erfolg ist nicht nur daran zu messen, ob Leute ins Kino gehen, sondern ist auch kulturell zu sehen. Das ist nun auch politisch zur Kenntnis genommen worden.

Was bringt ein Festivalerfolg in der Praxis?

Seidl: Erstmals internationale Reputation: Jährlich kommen Tausende Filme auf den Markt, die nach Venedig, Cannes oder Berlin wollen, aber letztendlich sind im Wettbewerb nur 22. Man wird medial international wahrgenommen. Und international präsent zu sein, bedeutet, der Film wird verkauft. Das garantiert, weitere Film machen zu können. Also egal, wie das nun in Venedig medial ausgeht, werden beide Filme als erfolgreich gelten, weil sie Kriterien erfüllt haben.

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Ulrich Seidl

Ulrich Seidl, 61. Der im niederösterreichischen Horn aufgewachsene Regisseur, Drehbuchautor und Produzent gilt als Spezialist fürs Abgründige und hat sich in eigener Ästhetik und Arbeitsweise mit Filmen wie "Models“, "Hundstage“ und zuletzt der "Paradies“-Trilogie auch international einen Namen gemacht. Aktuell arbeitet Seidl an einem Film über Jäger. Sein Film "Im Keller/In The Basement“ wird bei den Filmfestspielen in Venedig uraufgeführt.
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Veronika Franz

Veronika Franz, 49. Die Wiener Filmkritikerin und Lebensgefährtin von Ulrich Seidl ist seit 1997 auch seine engste künstlerische Mitarbeiterin und Co-Autorin. Gemeinsam mit Severin Fiala, mit dem sie bereits die Doku "Kern“ gedreht hat, hat sie nun ihren ersten Spielfilm, "Ich seh Ich seh/Goodnight Mommy“, erarbeitet, der in Venedig im Rahmen der Orizzonti-Reihe läuft.
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Filmfestspiele Venedig

20 Filme werden heuer bei den 71. Filmfestspielen in Venedig um den Goldenen Löwen ins Rennen gehen. Eröffnet wird mit Alejandro Iñárritus Komödie "Birdland“. Zu sehen sind weiters Abel Ferraras "Pasolini“ mit William Dafoe oder "Manglehorn“ mit Al Pacino. Österreich ist u. a. mit Ulrich Seidls "Im Keller“ und dem Horrorfilm "Ich seh Ich seh“ vertreten. In der Jury unter dem Vorsitz von Alexandre Desplat sitzt u. a. die österreichische Regisseurin Jessica Hausner.

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