"Matratzenhaus": In seinem neuen Krimi seziert Hochgatterer wieder die Kleinstadt
Der Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer über seinen neuen Krimi Das Matratzenhaus, missbrauchte Kinder, Priklopil und Fritzl und die spezifische Falschheit von Kleinstädten.
Im Bild: Das "Fritzl-Haus" in Amstetten
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In all Ihren Büchern stellen sich Ihre Figuren Dinge vor: etwa wie sie jemandem einen Faustschlag verpassen oder mit der Frau eines anderen schlafen. Warum?
Hochgatterer:
Das tun Menschen ständig.
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Reagiert man so seine Triebe ab?
Hochgatterer:
Nein, das ist einfach vorhanden. Es gibt so etwas wie eine Notwendigkeit zum Imaginären. Wir stellen uns ständig irgendetwas vor.
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Gilt das auch für Gewalt, Verführung oder Verbotenes?
Hochgatterer:
Ich halte das für einen psychohygienisch extrem wichtigen Mechanismus. Die Dinge, die wir uns vorstellen, müssen wir nicht oder oft nicht tun.
FORMAT:
Sowohl Kommissar Kovacs als auch Psychiater Horn, die Helden Ihrer Krimis, stellen sich viel vor. Ist der Unterschied zwischen ihnen und den Verbrechern bzw. psychisch Kranken, mit denen sie zu tun haben, dass bei Letzteren die Vorstellungen umgesetzt werden?
Hochgatterer:
Bei den wenigen Tätern, die es real gibt, ist das so. Ja.
FORMAT:
Was läuft da anders?
Hochgatterer:
Ich glaube, dass Menschen, die in der Lage sind, zu imaginieren, oft nicht zu kippen brauchen. Die, die das nicht können, sind die, die dann handeln. Sie können sich nicht vorstellen, wie andere denken und empfinden und daher auch nicht deren Verzweiflung, Schmerz oder Ausgeliefertsein.
Das Wegschauen der Gesellschaft
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In all Ihren Büchern spielen Kinder und Jugendliche wichtige Rollen. Im neuen Roman sind Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Wie kam es dazu?
Hochgatterer:
Es ist ein Thema, das mich schon lange ständig beschäftigt. Der Umgang mit Kindern, mit Benachteiligten und Misshandelten ist für mich ein Parameter, die Qualität einer sogenannten sozialen Gesellschaft zu beurteilen. Darüber wird auch so viel Blödsinn gesagt.
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Wie kommt das?
Hochgatterer:
Um der Wahrheit nicht ins Auge zu schauen, dass man nach wie vor höchst insuffizient mit dem Thema und vor allem mit den Opfern umgeht.
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Weil man sie kriminalisiert?
Hochgatterer:
Teilweise kriminalisiert man sie, teilweise nimmt man sie und die Leute, die darüber etwas zu sagen haben, nicht ernst. Indem man den Akzent auf strafrechtliche Dinge legt und nicht auf psychodiagnostische, lässt man so etwas wie eine halbwegs ernsthafte Überprüfung nicht zu. Gerade bei kleinen Kindern ist das so.
FORMAT:
Was heißt das für die Praxis?
Hochgatterer:
Sie werden aus einem kleinen missbrauchten Kind niemals etwas herauskriegen, was im forensischen Sinn Wahrheit ist. Das geht nicht, weil es dazu nicht fähig ist. Trotzdem gibt es deutliche Hinweise auf Missbrauch, die im kinderpsychiatrischen Sinn bekannt sind. Forensisch zählen die nicht genug, weil man sagt, dass die symbolische Aussage eines fünfjährigen Kindes etwa eine Zeichnung vor Gericht nicht verwertbar ist.
"Die Opfer rächen sich nicht"
FORMAT:
Stehen die Kinder, mit denen Sie als Kinderpsychiater zu tun haben, Pate für Ihre literarischen Figuren?
Hochgatterer:
Wo ist die Trennlinie? Ich weiß es nicht. Es sind natürlich nicht Fälle, die mir eins zu eins begegnet sind, aber natürlich sind sie es auch
und manche Dinge passieren leider nicht.
FORMAT:
Was zum Beispiel?
Hochgatterer:
Es gibt so etwas wie Tabus, die für die Mehrzahl der Opfer total bindend sind. Rache zum Beispiel. Die Opfer rächen sich nicht. Sie sterben vor Angst, sind gelähmt, ziehen sich zurück, bringen sich um, verfallen in Süchte oder werden psychotisch, aber sie nehmen nicht das Messer und stechen den Missbraucher ab.
FORMAT:
Anders als in Ihrem Buch, wo es die Rache eines Mädchens gibt.
Hochgatterer:
Es kann nur in so einer Konstellation passieren: wenn die Identifikation mit dem Täter nicht sehr eng ist. Er ist nicht der Vater des Kindes und war ursprünglich auch geografisch weit weg.
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Dieses Mädchen versucht auch, ein zweites missbrauchtes Mädchen zu schützen. Allerdings geht es schlecht aus
Hochgatterer:
Einerseits
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Wo bitte ist bei einem vermutlich tödlichen Ausgang das Andererseits?
Hochgatterer:
Es gibt zumindest die Idee, dass es den Täter erwischt und das ältere Mädchen davonkommt.
"Das Geheimzimmer hat viel mit der Realität zu tun"
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Ein brutales Andererseits. Macht Sie die Beschäftigung mit solchen Themen zynisch?
Hochgatterer:
Im Gegenteil. Die Beschäftigung mit den Kindern macht mich überhaupt nicht zynisch. Die Beschäftigung mit den Tätern, die macht mich wütend immer wieder.
FORMAT:
Eine universelle Angst, die oft in Filmen und auch in Ihrem Buch auftaucht, ist die des Geheimzimmers, in dem schreckliche Dinge passieren.
Hochgatterer:
Das hat, wie wir aus den letzten Jahren in Österreich wissen, sehr viel mit der Realität zu tun.
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Sie hatten als Kinderpsychiater mit dem Fall Fritzl zu tun. Sie haben sich immer geweigert, dazu Stellung zu nehmen. Warum haben Sie nichts gesagt?
Hochgatterer:
Aus Selbstschutz und um die Leute, mit denen ich zu tun hatte, zu schützen. Das gelingt einem nicht mehr, wenn man zu einem Thema ständig gefragt wird.
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Das Problem der öffentlichen Stellungnahme kann man als beteiligter Experte nicht mit Anstand lösen?
Hochgatterer:
Ich kann es jedenfalls nicht. Mir war die perverse Lust, in dieses Geheimzimmer schauen zu wollen, die hinter der Anfragenflut stand, zutiefst zuwider.
"Diese spezifische Kleinstadt-Mischung"
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Haben Ihre Helden, Kommissar Kovacs und Psychiater Horn, etwas mit Ihnen zu tun?
Hochgatterer:
Horn hat vermutlich ziemlich viel mit mir als Psychiater zu tun.
FORMAT:
Ist er ein guter Psychiater?
Hochgatterer:
Ich glaube, er ist ganz gut. Einer, der manchmal auch an seine Grenzen stößt, manche Patienten lieber hat als andere und das auch nicht verbirgt. Dass einem das nicht selbst passieren würde, wäre gelogen.
FORMAT:
Und wo ähnelt Ihnen der Kommissar?
Hochgatterer:
Im Wunsch nach Leistungsverweigerung, Rückzug und kontemplativer Weltbetrachtung. In der Mischung aus Wärme und Skepsis, mit der er sich heiklen Themen annimmt: der Frauen, der Tochter, des Fremden. Da ist er mir sehr nahe.
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Warum spielen Ihre Krimis in der Provinz?
Hochgatterer:
Es ist unbewusst passiert, aber vermutlich wollte ich das. Die Realität hat ja gezeigt, dass so eine Kleinstadt schon irgendetwas Besonderes hat. Die Amstettens und Strasshofs haben eine spezifische Dynamik.
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Die Fälle Kampusch und Fritzl sind nicht zufällig in Kleinstädten passiert?
Hochgatterer:
Es ist diese seltsame Mischung, die mit Verbergen zu tun hat. Man tut, als gäbe es die Anonymität der Großstadt, und legt gleichzeitig ungeheuren Wert darauf, dörfliche Strukturen in erster Linie diesen dörflichen Voyeurismus oder diese dörfliche Transparenz zu wahren. Dadurch entsteht diese kleinstädtische Falschheit.
"Amstetten ist mir durch den Fritzl nicht verdorben"
FORMAT:
Sie kommen ja selbst aus Amstetten. Fühlt sich das nicht sehr eigenartig an?
Hochgatterer:
Ich bin in Amstetten geboren und dort ins Gymnasium gegangen. Für mich ist es nicht durch den Fritzl verdorben. Aber natürlich ist es seltsam, mir vorzustellen, dass ein paar hundert Meter von dem Ort, wo ich acht Jahre lang ins Gymnasium gegangen bin, dieses Verlies war.
FORMAT:
Gab es das Verlies schon, als Sie Gymnasiast waren?
Hochgatterer:
Begonnen hat es zu einem Zeitpunkt, als ich noch dort in die Schule gegangen bin. Ich habe es irgendwann einmal durchgerechnet.
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Eine ziemliche Koinzidenz, wo Sie doch als Kinderpsychiater mit ähnlichen Fällen zu tun haben.
Hochgatterer:
So, als hätte es mein Unbewusstes immer schon gewusst
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Sie sind einer der Autoren, die fürs Schauspielhaus ein Stück zu einem der Zehn Gebote geschrieben haben. Welches Gebot haben Sie bearbeitet?
Hochgatterer:
Na, welches Gebot hat wohl ein Kinderpsychiater?
FORMAT:
Du sollst Vater und Mutter ehren?
Hochgatterer:
Selbstverständlich!
Interview: Julia Kospach
Paulus Hochgatterer, 49 , ist Schriftsteller und Kinderpsychiater. Sein neuer, zweiter Krimi Das Matratzenhaus (Deuticke, 294 S., 20,50), in dem es um Kindesmissbrauch geht, erscheint am 8. Februar. Sein Stück Der Kopf für die Serie des Wiener Schauspielhauses zu den Zehn Geboten hat am 17. Februar Premiere ( www.schauspielhaus.at ).