Revolution im Haubenland

Der Restaurantführer stürzt erstmals einen Vier-Hauben-Koch und reagiert auf die neuen Zeiten — die kulinarische Szene ist nämlich gehörig in Bewegung geraten.

Dreimal kamen die anonymen Tester im Lauf des Jahres 2002. Dreimal zogen sie enttäuscht von dannen. „Schlichte, nichtssagende Brotkörbchen sowie etwas Butter und ein dickwandiger Kelch mit der Miniatur eines Shrimpscocktails“, wie sie später im Gourmetführer „Gault Millau“ bemäkelten, waren ihnen vor Beginn des Mahls gereicht worden – und das im Luxustempel Korso in Wien.

Es folgten widersprüchliche kulinarische Erlebnisse aus der Küche von Reinhard Gerer, Österreichs bekanntestem und umtriebigstem Starkoch: Gerichte, denen es an „jeglicher Inspiration oder gar Spontaneität“ mangelte, solche, die zumindest „eine Ahnung“ vom hohen Niveau, das hier herrschen könnte, vermittelten und Desserts, die sich „als beliebiges Potpourri“ mit „blassen und labbrigen“ Erdbeeren erwiesen, begleitet von einem Mangomousse, „das sich am Buffet eines Fitneßstudios besser machen würde“.

Schon seit Wochen munkelten Gastronomen, der „Gault Millau 2003“ berge Sprengstoff. Das war keine falsche Vermutung: Der Guide ist strenger geworden. Er reagiert auf die Umwälzungen in der österreichischen Haubenlandschaft, in der immer mehr Szenelokale oft nur kurzfristige Hysterie entfachen. Die Gäste der gehobenen Gastronomie sind im Zuge des Gourmetbooms immer besser informiert, sie stellen Vergleiche an und akzeptieren Haubengütesiegel längst nicht widerspruchslos. „‚Gault Millau‘-Leser reagieren besonders verärgert auf zu hohe Bewertungen“, sagt Michael Reinartz, seit 1980 Herausgeber des Restaurantführers.

Vom Olymp gestossen
Doch noch nie in der 23jährigen Geschichte des „Gault Millau“ wurde ein Spitzenkoch mit einem derartigen Verriss wieder vom Olymp geholt wie diesmal Reinhard Gerer. Gewöhnliche Korso-Besucher hätten nichts von seinem Talent, kritisiert der „Gault Millau“. Wirklich gut bekocht würden nämlich nur jene Bekannten, die ihn nachmittags am Naschmarkt aufsuchen, wo er mit Freunden „und ein paar Gläsern“ anzutreffen sei, um mit ihm das abendliche Menü zu besprechen. Gerer empört: „Das geht nun ins Persönliche.“

Doch der Sturz des Küchenchefs, der sich nicht scheute, sein Kochbuch programmatisch „Der große Gerer“ zu nennen, ist nicht die einzige bemerkenswerte Neuigkeit des „Gault Millau 2003“. Noch nie verlieh der Gourmetführer in einer neuen Ausgabe weniger Hauben als im Jahr zuvor: Heuer ging die Zahl der Hauben von 437 auf 410 zurück. An mahnenden Worten lassen es die Tester auch für Topköche nicht fehlen. Um ein Haar hätte auch das Wiener Restaurant Steirereck seine vierte Haube verloren. „Nicht uneingeschränkte Begeisterung“ entlockte den Testern eine Taube mit gebratener Briochetorte, den Hummer fanden sie gar „fasrig und leicht zäh“. Fazit: Nur die „einzigartigen und langjährigen Verdienste“ der Gastronomenfamilie Reitbauer und ihres Küchenchefs Helmut Österreicher hätten die Vorkoster veranlaßt, „die Bewertung unverändert zu lassen“. Auch im Bereich der Zwei- und Drei-Hauben-Lokale gibt es diesmal überdurchschnittlich viele Punkteabzüge und Haubenreduktionen. Reinartz nennt das „eine vernünftige Bereinigung der kulinarischen Szene“.

Autor: Klaus Kamolz

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