Gestreßte Schüler benötigen psychologische Hilfe

Gepeinigt von Versagensängsten, Denkblockaden anderen psychischen Störungen, benötigen sie die Hilfe von Experten.

Der zwölfjährige Clemens, Schüler einer Wiener Privatschule, hat Angst. Angst vor dem Schulbeginn. Und Angst vor seinem Deutschlehrer. Im vergangenen Jahr wurde der Deutschunterricht für ihn zum Horror. Während sein Lehrer der Überzeugung war, Clemens R. lerne nur widerwillig, sei faul und habe Flausen im Kopf, litt der Schüler unter zunehmender Prüfungsangst und einer immer schlechteren Beziehung zu seinem Pauker.

Die Folge: Clemens wachte in der Nacht schweißgebadet auf, hatte Alpträume, wollte an manchen Tagen kaum essen und brachte schließlich bei mündlichen Prüfungen keinen Ton mehr heraus. Und das, obwohl er davor mit seiner Mutter ausgiebig gelernt hatte und zu Hause den Eindruck erweckte, er könne sich das Gelernte durchaus merken. Doch im Unterricht war das Wissen plötzlich wie weggeblasen. Ergebnis: „Nicht genügend“.

Merkhemmung
Psychologen sprechen in solchen Fällen von sogenannten Interferenzen, Störungen beim Speichern von gelernter Information. Dabei gerät neu gelernter Stoff in Konflikt mit vorhandenem Wissen, eine sogenannte retroaktive Hemmung sorgt dafür, daß neuer Lernstoff den alten blockiert oder gänzlich löscht, der Betreffende hat das Gefühl einer steten Überforderung. Mit einem Wort: Er glaubt, er sei zu dumm für die Schule. Doch der Grund für das Dilemma ist meist nicht mangelnde Intelligenz, sondern negativer Lernstreß. Immer mehr Schüler klagen über Gedächtnisausfälle, Denkblockaden und Versagensängste. „Die Ursachen dafür“, meint Susanne Brandsteidl, Präsidentin des Wiener Stadtschulrats, „sind meist Überforderung, Unterforderung oder falsche Schulwahl. Es kann aber auch sozialer Streß sein, also Probleme mit Gleichaltrigen wie Rivalität, Ausgrenzung oder Mobbing.“

Allein der Wiener Stadtschulrat verzeichnete im vergangenen Jahr mehr als 4.000 Untersuchungen durch Experten und Psychologen. In allen Fällen handelte es sich um schwerwiegende Lernprobleme. Darüber hinaus führten die insgesamt 25 Psychologen des Wiener Stadtschulrats rund 6.000 Beratungsgespräche. In rund 2.000 Fällen mußte sogar eine längerfristige psychologische Betreuung verordnet werden.

Die Gründe für die Misere sind vielfältig. Vor allem jetzt zu Schulbeginn ist die Belastung besonders hoch: Viele haben die Schule oder gar den Schultyp gewechselt, müssen sich an neue Schulwege, Klassenkameraden und Lehrer gewöhnen.

Falsche Schule
Dazu kommt, daß viele Schüler durch die hohen Anforde-rungen in der Schule schlicht chronisch überlastet sind. Grund dafür ist nach Meinung vieler Pädagogen nicht selten auch der übertriebene Ehrgeiz der Eltern. So gehen in Wien derzeit mehr als fünfzig Prozent aller Schüler in die relativ anspruchsvolle Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS), weil sich die Eltern von einer Matura bessere Berufs- und Bildungschancen für ihre Sprößlinge versprechen.
Wenn den Kindern das nötige Sitzfleisch für die AHS fehlt, bleiben die Erfolgserlebnisse bald aus. Ein Teufelskreislauf beginnt: Das Lernen macht keinen Spaß, die Noten werden noch schlechter, der Streßpegel steigt.

Autoren: Gottfried Derka, Herbert Hacker

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