Das lukrative Geschäft mit der Allergie:
25 Prozent der Österreicher sind betroffen

Immer mehr Österreicher leiden unter Allergien und ähnlichen Krankheiten. Pharmaindustrie, Apotheken und Lebensmittelhandel teilen sich das Millionenbusiness.

Kopfweh, rinnende Nase, Bauchschmerzen. Der 43-jährige Wiener Versicherungsangestellte Robert Koblenc (Name v. d. Red. geändert) leidet seit mehreren Jahren an diffusen Beschwerden: einem im Frühjahr besonders heftigen Schnupfen, lästigem Magengrimmen, das manchmal nach dem Essen einsetzt. Vielleicht der tägliche Stress, der hastig hinuntergeschlungene Kantinen-Lunch, die trockene Luft im Büro? Der nach langem Zögern konsultierte Hausarzt verschreibt dem Workaholic jedoch keine Medikamente, sondern schickt ihn in ein Allergiezentrum. Ein aufwendiger Test, bei dem die Haut des Managers mit allerlei reizenden Stoffen traktiert wird, soll Klarheit bringen. Zudem werden mit Blut- und Atemtests Gluten-, Laktose-, Fruktose- und Histamin-Intoleranz geprüft. Der Aufwand zeitigt in dreierlei Hinsicht unerfreuliche Ergebnisse: Koblenc leidet erstens an einer ausgeprägten Birkenpollenallergie, zweitens an einer Laktose-Intoleranz, einer Nahrungsmittelunverträglichkeit von Milchzucker. Drittens bekommt er eine Rechnung überreicht: Die Krankenkasse zahle Fruktose- und Laktosetests nicht, zuckt der Arzt bedauernd die Schultern. Alsdann wären: 88 Euro. Nicht viel, nur ein kleiner Vorgeschmack auf den allgemeinen Anstieg der Lebenshaltungskosten, der den Versicherungsexperten alleine aufgrund der einzuhaltenden Diät erwartet.

Volkskrankheit Allergie. Wenn geteiltes Leid halbes Leid ist, dann kann sich Koblenc zumindest mit den Zahlen trösten: Er ist kein Einzelfall. Rund 25 Prozent der Österreicher, schätzen Fachärzte, sind von Allergien und ähnlichen Leiden betroffen – in Zahlen zwei Millionen. Am häufigsten stehen die heimischen Bürger mit Gräserpollen auf Kriegsfuß. Sie machen laut Angaben des Österreichischen Allergieberichts 27,7 Prozent aller diagnostizierten Be­schwerden aus. Auf Rang zwei unter den Reizstoffen folgt die Hausstaubmilbe, die Plätze drei und vier gehen an Katze und Birke (siehe Grafik Seite 45). Wegen der hohen Dunkelziffer ist die Erfassung genauer Zahlen zwar schwierig, doch eines ist klar: Die Zahl der Allergie- und Intoleranz-Diagnosen ist massiv im Steigen begriffen, die Kosten für Medikamente und Therapien ebenso.

Grassierende Volkskrankheit. Das hat durchaus volkswirtschaftliche Dimensionen. In der Krankenstandsstatistik des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger gibt es zwar keine eigene Kategorie für Allergien, aber die Gruppe, unter die diese Krankheitsbilder fallen, weist von 1991 bis 2006 einen Anstieg von 92 Prozent auf 1,6 Millionen Tage pro Jahr aus. Das liegt unter anderem daran, dass Allergien keine kurzfristigen Unpäss­lichkeiten sind. Die Wiener Gebietskrankenkasse gibt die durchschnittliche Krankenstandsdauer bei Allergiediagnosen mit 13,5 Tagen an. Auch die Stellungskommission beim Bundesheer vermerkt eine steigende Anzahl untauglicher Rekruten mit der Diagnose Allergie. Waren 1986 0,76 Prozent der Gemusterten durch Asthma wehr­unfähig, verdreifachte sich dieser Anteil bis 2005 auf 2,31 Prozent. Auch die direkt zuordenbaren Kosten für die Kranken­versicherungen steigen. Der Verband der Sozialversicherungsträger gab 2003 für derartige Beschwerden 30,1 Millionen Euro aus. 2007 waren es mit 42,2 Millionen bereits um 40,3 Prozent mehr.

Eine Kalkulation der gesamten volkswirtschaftlichen Kosten gibt es für Österreich derzeit noch nicht. Für die EU schätzt die Europäische Stiftung für Allergie­forschung (ECARF) die jährlichen Kosten auf unglaubliche 25 Milliarden Euro. Aliquotiert auf Österreichs Bevölkerung, ergibt das eine halbe Milliarde Euro. Laut Gesundheitsbefragung 2006/2007 der Statistik Austria zählen allergische Beschwerden mittlerweile zu den vier häufigsten chronischen Erkrankungen der Österreicher. „Bis zu 15.000 Österreicher beginnen jährlich mit einer spezifischen Immun­therapie“, erklärt Thomas Horn, Marketingleiter des auf Allergien spezialisierten Pharmaunternehmens ALK-Abellò. Die Österreichische Arbeitsgemeinschaft Zöliakie, die sich für die Belange von Menschen mit Glutenintoleranz einsetzt, zählt monatlich 45 neue Mitglieder.

Zu sauber für diese Welt. Woher die Zunahme der Krankheitsfälle rührt, ist strittig. „Zu viel Hygiene in den ersten Lebensjahren“, ist Friedrich Horak, Leiter des Allergiezentrums Wien West, überzeugt und widerspricht damit einer anderen beliebten Theorie, nämlich einem Anstieg der Umweltgifte. Der allgemeine Stress sei ebenfalls ein wichtiger Faktor, bringt Reinhart Jarisch, Leiter des Komitees für klinische Allergologie in der Österreichischen Gesellschaft für Allergologie und Immunologie (ÖGAI), die psychosomatische Ebene ins Spiel. Unbestritten ist jedoch, dass die Gene eine Rolle spielen. Sind beide Eltern Allergiker, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind eine entsprechende Diagnose bekommt, laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung bei 50 bis 60 Prozent. „Das Allergieprofil, das heißt, jene Allergene, gegen die man negativ reagiert, wird – beeinflusst durch Umwelt­faktoren – schon früh in der Kindheit festgelegt und ändert sich dann nicht mehr“, erklärt Rudolf Valenta, Professor an der MedUni Wien.

Eine weitere unter Wissenschaftlern strittige Frage ist, ob tatsächlich die Zahl der Allergiefälle steigt oder bloß jene der Diagnosen. Viele Ärzte neigen heute zu letzterer Variante. Durch mediale Berichterstattung sei das Bewusstsein für diese Krankheitsbilder gestiegen, und verbesserte Diagnosemöglichkeiten sorgten dafür, dass das Leiden korrekt befundet würde. Das ist deshalb keine Selbstverständlichkeit, weil die Symptome oft unbestimmt sind und sowohl von den Betroffenen als auch von deren Umgebung als kleine Wehwehchen ignoriert werden. Schon die Unterscheidung zwischen Allergie und Unverträglichkeit ist den wenigs­ten geläufig, hat aber für die Therapie entscheidende Bedeutung.

Der Feind in uns. Eine Allergie ist eine Überreaktion auf kleine körperfremde Eiweißpartikel, die sich etwa in der Luft oder in Nahrungsmitteln befinden und über Verdauung, Haut, Schleimhäute oder Atemwege in den Organismus eindringen. Das Immunsystem reagiert darauf mit Ausschüttung von Histamin, jenem körper­eigenen Abwehrstoff, der Schleimhäute anschwellen und die Haut jucken lässt. Nicht unbedingt weniger verbreitet, aber weniger bekannt sind Unverträglichkeiten – im Medizinjargon Intoleranzen genannt –, die auf einer Unfähigkeit des Organismus beruhen, bestimmte Nahrungsmittel zu verdauen. Die Symptome sind oft schwammig – Kopfschmerzen, Bauchweh, Eisenmangel – und können zu einer jahrelangen Odyssee durch die Arztpraxen mit den entsprechenden volkswirtschaftlichen Schäden führen. Hat der Pa­tient das Glück einer korrekten Diagnose, muss er die Anweisungen streng einhalten. Diese sind unterschiedlich: Bei Fruktose-Unverträglichkeit kann oft eine mehrwöchige Obst- und Zucker-Abstinenz dauerhafte Linderung bewirken. Bei Gluten­intoleranz oder Zöliakie (Unverträglichkeit des in verschiedenen Getreidearten ent­haltenen Klebereiweißes) muss hingegen lebenslang strenge Diät gehalten werden.
Nahrungsmittelallergien sind bei Er­wachsenen sehr selten, Unverträglichkeiten dagegen viel häufiger als angenommen, sagt Horak. Experten schätzen, dass in Österreich 15 Prozent der Bevölkerung an Laktose-Intoleranz leiden, an Histamin- und Fruktose-Intoleranz sowie Zöliakie je ein Prozent. Die wenigsten Betroffenen wissen freilich von ihrer Veranlagung.

Gefährliche Gleichgültigkeit. Doch diese Ignoranz ist gefährlich. „Bei ersten Beschwerden sollte man sofort zum Facharzt gehen und einen Allergietest machen lassen“, rät Eva-Maria Wimmer von der Salvator Apotheke Eisenstadt. Ansonsten kann aus leichtem Heuschnupfen schnell Asthma werden. Wimmer ist das selbst passiert: „Ich hätte das nicht in dieser Heftigkeit erwartet.“ Generell wird die Latenz­zeit – also die Spanne zwischen ersten Symptomen und Diagnose – immer länger. Allergieexperte Jarisch: „Vom Beginn der Beschwerden bis zur Diagnose vergehen derzeit etwa sechs bis neun Jahre.“ Der Grund: Die meisten greifen bei kleineren Beschwerden zur Selbstmedikation. Das Wegschauen der Betroffenen mag auch daran liegen, dass das Leben mit der Diagnose Allergie oder Intoleranz nicht eben bequemer wird. Einschränkungen in der Freizeitgestaltung, strenge Diäten und Spezial-Lebensmittel machen den Life­style beschwerlicher und markant teurer.

Doch wo immer jemand viel bezahlt, gibt es einen anderen, der gut verdient. Dieser Mechanismus funktioniert auch bei Allergien und Unverträglichkeiten, und das umso mehr, als der Betroffene kaum Chancen hat, auf Standardprodukte auszuweichen. Wie lukrativ diese Zielgruppe ist, zeigt ein kurioses Beispiel: So hat ein US-Unternehmen eigens für allergiegeplagte Fans von Zimmertigern eine Katze ge­züchtet, deren Haare keine Beschwerden auslösen. Das pelzige Vergnügen hat allerdings seinen Preis: Die Objekte reizfreier Streicheleinheiten kosten geschmalzene 5.400 Euro. Dagegen schlägt selbst die teuerste Siam-Rassekatze nur mit rund 700 Euro zu Buche.

Freilich sind es nicht die Tierzüchter, die den Löwenanteil des Umsatzes mit Al­lergien machen. Zu den größten Profiteuren zählt naturgemäß die Pharmaindustrie. Sie entwickelt und vertreibt Präparate, die in unterschiedlicher Weise Linderung oder sogar Heilung von der lästigen Plage versprechen. Derzeit gibt es zwei Therapieansätze. Bei der Desensibilisierung wird versucht, durch gezielten, kontrollierten Kontakt mit dem krank machenden Stoff die Überreaktion des Körpers abzubauen. Die andere Methode beschränkt sich auf reine Symptombekämpfung und macht die dauerhafte beziehungsweise saisonale Einnahme von Medikamenten notwendig.

Tiefstapler Pharmabranche. Offizielle Zah­len, was das der Pharmaindustrie an Um­satz bringt, gibt es nicht. Selbst inoffiziell gibt ein Manager nur höchst bescheidene Summen an: „Der jährliche Umsatz für systemische Antihistaminika beläuft sich auf rund zehn Millionen Euro. Allergie-Medikamente sind ja nicht teuer“, beruhigt der Marketingexperte.
Die Wahrheit bewegt sich in ganz an­deren Dimensionen. So hat die Sozialver­sicherung 2007 14 Millionen Euro alleine für Desensibilisierung ausgegeben – ein Bereich, der im internationalen Schnitt bei etwa fünf Prozent der Gesamtausgaben für Allergien liegt. Die restlichen 95 Prozent entfallen auf Antihistaminika und Kortison. Wenn man diese Zahlen hochrechnet – die Relation dürfte zumindest grob auch auf Österreich zutreffen –, kommt man selbst bei einer sehr konservativen Schätzung auf einen jährlichen Umsatz von Minimum 100 Millionen Euro. Mutigere Zahlen nennt Max Bayerl, Vorstand des auf Allergieforschung spezialisierten Biotech-Unternehmens Biomay: „Wir können hierzulande von 200 bis 260 Millionen Euro an jährlichem Umsatz alleine im Bereich Antihistaminika und Kortison ausgehen.“

Die steigende Tendenz spürt man auch beim wichtigsten Absatzkanal. Thomas Halak von der Apotheke Altmannsdorf: „Heuer haben wir im Bereich der Antiallergika sicher um 20 Prozent mehr Absatz als im Vorjahr.“ Kollege Max Paukovics schränkt allerdings ein: „Wetterbedingt gab es im Frühjahr 2008 eine besonders starke Belastung.“ Langfristig schätzt man das jährliche Umsatzplus auf drei bis fünf Prozent. Weniger mit Allergien denn mit Unverträglichkeiten macht der Handel sein Geschäft. Konkret betrifft das Lebensmittel, die gluten-, laktose- oder fruktosefrei sind. Deren Angebot hat sich in den vergangenen fünf Jahren vervielfacht, was für Menschen, die mit Intoleranzen zu kämpfen haben, höhere Lebensqualität bedeutet.
Die Preise sind allerdings geschmalzen: Laktosefreie Milch ist um 117 Prozent teurer als ihr normales Pendant, glutenfreie Nudeln kosten im Vergleich zur Standardware von Barilla das Dreifache. Bei Betrachtung des gesamten Angebots ist der Anteil dieser Nahrungsmittel freilich noch marginal. „Bei den beiden größten Handelsketten machen laktose-, gluten- und fruktosefreie Lebensmittel zwei bis drei Regalfächer aus. Ihr Anteil am Umsatz befindet sich im untersten Promillebereich“, weiß Peter Schnedlitz vom Institut für Handel und Marketing der WU Wien. Das würde für Rewe bei einem Jahresumsatz 2007 von 5,3 Milliarden Euro etwa zehn Millionen Euro bedeuten, bei Spar mit 4,3 Milliarden Euro Jahresumsatz etwa acht Millionen. „Es ist schwierig, genaue Zahlen festzumachen, weil es sich bei diesen Produkten um keine klassische Warengruppe, sondern um einen Querschnittsbereich handelt“, erklärt Hanspeter Madlberger, Herausgeber der Handelszeitschrift „Key Account“. Die Drogeriemarktkette dm, die stark auf Nahrungsmittelintoleranzen setzt und 117 der angebotenen Produkte unter dem Begriff „Spezialnahrung“ gelistet hat, verzeichnete 2007 für diesen Bereich eine 20-prozentige Umsatzsteigerung. Innerhalb der laktosefreien Nahrung sind Sojaprodukte zwar noch ein kleiner Markt, der allerdings rasant wächst. Dass Danone mit seiner Savia-Produktfamilie darauf gesetzt hat, markiert für Madlberger einen Durchbruch in Richtung Massenmarkt. „Der Soja-Speisemarkt in Österreich ist in den letzten zwei Jahren jeweils um rund 30 Prozent gewachsen und belief sich 2007 auf 17,7 Millionen Euro“, sagt Volker Moser, PR-Verantwortlicher des heimischen Sojaprodukt-Herstellers Joya.

Einträgliche Unverträglichkeit. Auch für Zöliakie-Kranke wird das Angebot größer. Der italienische Hersteller Dr. Schär, europaweiter Marktführer auf dem Gebiet der glutenfreien Nahrung, erzielt ein jährliches Umsatzplus von 15 Prozent. Wichtigste Produkte: Brot und Mehl, die aus Mais, Reis, Kartoffeln und Erbsen gefertigt sind. Besondere Nachfrage sieht Schär bei Portionspackungen. Bei Merkur und Billa kann man sich mittlerweile glutenfreies Brot backen lassen. Ein besonderer Boom der Diätprodukte macht sich im Bereich der Eigenmarken bemerkbar: dm setzt mit seiner Brand Alnavit auf empfindliche Kundschaft. Die Kennzeichnung „glutenfrei“ oder „laktosefrei“ scheint sich auch zunehmend zum Qualitätsmerkmal zu mausern: Rewe zeichnet gluten- und laktosefreie Produkte in seinen Linien „Ja! Natürlich“, „Quality First“ und „Chef Menü“ aus, und auch bei Spar sind bereits 320 Eigenmarkenprodukte, darunter sämtliche „Spar Feine Küche“-Convenience-Produkte, mit den entsprechenden Hinweisen versehen.
Die boomende Zahl der Betroffenen sorgt mittlerweile für ein immer größeres Angebot an auf sie zugeschnittenen Produkten. Pharmaindustrie, Apotheken und Lebensmittelhandel schätzen den Aller­giker zunehmend als treuen und margenstarken Kunden. Für Menschen wie Robert Koblenc ist das freilich ein schwacher Trost – und ein teurer Spaß.

Von Lucy Traunmüller