Porträt: Wolfgang Leitner, Mann des Jahres

Es war die größte Firmenübernahme des Jahres: Die Grazer Andritz AG kaufte für 190 Millionen Euro die heiß umkämpfte Siemens-Tochter VA Tech Hydro. Hinter dem Deal steckt einer der fähigsten Manager des Landes, ein Mann mit einer spektakulären Lebensleistung: Wolfgang Leitner hat es vom Arbeiterkind zum Multimillionär und erfolgreichen Unternehmer gebracht. Die Geschichte eines ungewöhnlichen Aufstiegs.

Das erste Mal. 1994 ging die Pharmavit in Ungarn an die Börse, und im Grunde hatte Wolfgang Leitner damals schon in kleinerem Maßstab vorexerziert, was er später im ganz großen beim Andritz-Einstieg durchzog: über Kredite einen größeren Anteil an einem Unternehmen zu erwerben und über einen späteren, teilweisen Börsegang zu finanzieren.

Auch Imre Somody verschuldete sich über beide Ohren und erwarb vor dem Börsegang einen 21-Prozent-Anteil an Pharmavit. Das junge Unternehmen entwickelte sich prächtig und machte 1994 bereits vier Milliarden Forint Umsatz – mit über 70 Generika und 20 verschiedenen Brausetabletten im Programm, die in mehreren osteuropäischen Ländern über eigene Tochterfirmen verkauft wurden. Innerhalb von nur fünf Jahren hatte es Pharmavit geschafft, in Ungarn, in Litern gerechnet, mehr Brausegetränke zu verkaufen als der Coca-Cola-Konzern im Magyarenland.

Nach dem Börsegang kam es zwischen den drei Gesellschaftern, die noch immer 77 Prozent der Aktien hielten, zu Missstimmigkeiten. Somody erinnert sich: „Wir hatten anfangs ein sehr interessantes Verhältnis. Leitner und Bartenstein waren in ihren grauen Anzügen sehr vorsichtig. Durchaus zu Recht. Aus heutiger Sicht hatte ich 1989 keine Ahnung, was Management bedeutet.

Jeden Sonntag um acht rief mich also Herr Leitner an, wie eine Schweizer Uhr, und wir sprachen über das Geschäft. Ich war der Kreative, Dynamische, Unvorsichtige, der 50 Prozent Plus wollte, er war der, der gesagt hat, lieber langsam und sicher, wir wollen unser Geld auch zurückverdienen.“

Im Mai 1995 flogen Leitner und Somody gemeinsam nach Toronto. In der Business-Class kommt es zu einem folgenschweren Deal. Somody will das Unternehmen verkaufen, er sieht die zunehmende Konkurrenz in Ungarn, hält den Zeitpunkt für ideal. Leitner bremst, will eigentlich nicht. Dann fragt Somody: „Okay, bei welchem Preis würdet ihr das Unternehmen verkaufen?“ Darauf Leitner eher missmutig: „Wenn wir 100 Millionen Dollar kriegen.“

Somody macht sich auf die Suche und stößt bald auf den US-Pharmakonzern Bristol-Myers Squibb, der in den 18 Monaten zuvor schon zwei Akquisitionen in Osteuropa getätigt hatte. Am 13. Dezember 1995 ist man sich handelseins. Der US-Multi erwirbt Pharmavit für insgesamt 110 Millionen US-Dollar, 23 Prozent von der Budapester Börse, 77 Prozent von Imre Somody und Genericon. „Wir waren eines der ganz wenigen Start-up-Unternehmen der Branche in einem Emerging Market. Das machte uns als Übernahmekandidat interessant, und Dr. Leitner hat die Verkaufsverhandlungen extrem erfolgreich geführt“, konstatierte Martin Bartenstein nachträglich. In der Tat: Bartenstein war jetzt der reichste Minister Österreichs, Leitner der vermögendste Finanzvorstand des Landes. Beide waren mit einem Schlag um je 33,5 Millionen Dollar reicher geworden. Wolfgang Leitner hätte von nun an ein bequemes Leben führen können, mit einer Villa in Südfrankreich und Golf auf den Bahamas. Aber: Das war seine Sache nicht.

„Mein Hauptziel im Berufsleben war immer materielle Unabhängigkeit. Zuerst setzt man sich eine Summe als Ziel, von deren Zinsen man leben kann, ohne das Kapital anknabbern zu müssen. Dann ist die Grenze dort, wo man nach Steuern von den Zinsen leben kann. Irgendwann kommt der Punkt, wo einem klar ist: Okay, das reicht sicherlich. Was mich heute treibt, ist, Dinge gemeinsam mit einem guten Team aufzubauen.“

Daran muss es wohl liegen, dass das Arbeiterkind aus Graz, das nun zum vielfachen Dollarmillionär geworden war, seinen Reichtum schon vier Jahre später eintauschte gegen eine 50-Stunden-Woche und einen Haufen Schulden.

Glück und dunkle Wolken. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre meint es das Schicksal wirklich gut mit Wolfgang Leitner, privat und im Job. Seine beiden Kinder werden geboren, und 1994 wird er nach siebenjähriger Tätigkeit als Finanzvorstand zum Vorstandsvorsitzenden der Andritz AG bestellt. Er ist jetzt Chef jenes Werkes, in dem einst sein Vater 30 Jahre lang als Arbeiter sein Brot verdiente. Auch die Firmengründung Genericon floriert. Last, but not least: Durch den spektakulären Pharmavit-Deal ist Leitner nun mit 42 auch noch zum vielfachen Multimillionär geworden.

Doch ausgerechnet in dieser Lebensphase zogen über Andritz trotz Geschäftserfolges dunkle Wolken am Himmel auf. Ab Mitte der neunziger Jahre drohte dem Grazer Maschinen- und Anlagenbauer nicht weniger als die Zerschlagung, ein Heuschreckenangriff, bei dem Finanzinvestoren die Filetstücke lukrativ abverkaufen würden.

Um dies zu verstehen, ist ein Blick zurück in die frühen achtziger Jahre angebracht (zur Andritz-Geschichte siehe auch Seite 64). Die Maschinenfabrik Andritz, damals im Besitz der Creditanstalt, war unter ihrem Chef Robert Scheriau tief in die Krise und in die roten Zahlen geschlittert. „Wir sahen damals durchaus den Trend, weg von einzelnen Maschinen, hin zu ganzen Anlagen, aber wir hatten zu wenig eigenes Know-how, verließen uns zu blauäugig auf Fremdfirmen. Einzelne Projekte wie eine Zellstofffabrik im tschechischen Plaskow waren zwar technisch ein Erfolg, betriebswirtschaftlich aber ein Desaster“, erinnert sich der heutige Andritz-Vorstand Friedrich Pabst, damals frischgebackener Assistent des Vorstands.

1984 stand die Firma bei ihrem Eigentümer, der staatseigenen Creditanstalt, mit 2,7 Milliarden Schilling (196 Millionen Euro) in der Kreide und war de facto zahlungsunfähig. Bruno Kreiskys Finanzminister Herbert Salcher wollte den Verlust von rund 1500 Arbeitsplätzen verhindern. Staatliche Subventionen sollten die Liquiditätskrise beseitigen und ein neues Management für frischen Wind sorgen. Salcher holte den deutschen, in Wien geborenen AEG-Topmanager Ludwig Pfeiffer-Lissa als Andritz-Sanierer, der eine Radikalkur verordnete. 700 Mitarbeiter mussten gehen, einzelne Bereiche wie die Gießerei wurden geschlossen. Die Rosskur zeitigte Wirkung. 1987 schrieb Andritz wieder schwarze Zahlen, und der damalige CA-Chef Guido Schmidt-Chiari suchte nach potenziellen Käufern. Es fand sich die Frankfurter AGIV, eine Finanzholding mit zeitweise bis zu 55 Geschäftsfeldern, die 51 Prozent der Andritz-Aktien erwarb (die CA behielt 42 Prozent, sieben Prozent besaß der Schweizer Konzern Sulzer-Escher-Wyss). Zehn Jahre später, 1997, wurde die AGIV schließlich Alleineigentümer der Andritz AG, die wieder prächtige Gewinne schrieb.

Woher kamen also die dunklen Wolken? Nun, der Andritz-Eigentümer AGIV gehörte seinerseits zu 49 Prozent der Frankfurter BHF-Bank, heute eine Privatbank mit 1800 Beschäftigten und einer Bilanzsumme von 18 Milliarden Euro. Das Institut war aus einem Zusammenschluss der Berliner Handelsbank und der Frankfurter Bank in den siebziger Jahren entstanden und hatte, wie dies damals im Bankgeschäft üblich war, eine Menge Industriebeteiligungen angesammelt. In den neunziger Jahren aber drehte sich der Zeitgeist, und das bis heute gängige Managementcredo „Konzentration auf das Kerngeschäft“ kam in Mode – statt wie früher üblich und auch nicht ganz dumm Diversifikation als Schutz gegen zyklisch schlechte Zeiten.

So versuchte die BHF-Bank zunächst ihre gesamte Beteiligungsholding AGIV in Bausch und Bogen zu verkaufen. Das misslang. UIAG-Chef Kurt Stiassny erinnert sich: „Auch wir wurden gefragt, aber an der gesamten AGIV waren wir nicht interessiert. Bei einem Korb mit so vielen Unternehmen konnte man sich einfach nicht auf einen Gesamtwert einigen.“

So kam es, dass im September 1999 nicht die AGIV selbst, sondern ihr wertvollstes Filetstück, die Andritz AG, verkauft wurde.

Jahrhundertchance mit Insiderwissen. Würde ein vernünftiger Mensch 33,5 Millionen US-Dollar auf dem Konto gegen 72 Millionen Euro Schulden eintauschen, um damit ein Aktienpaket an einem steirischen Maschinenbauer zu erwerben, den US-Finanzinvestoren als riskant einschätzten und von dem sie die Finger ließen?

Wolfgang Leitner tat genau das. „Er ist ein großer Analytiker“, sagt Andritz-Vorstand Pabst, „und er hat die Substanz gesehen: Andritz hat tolle Produkte und fähige Mitarbeiter. Es war ein Window of Opportunity. So eine Chance bekommt man nie wieder.“

Tatsächlich war das 25-Prozent-Management-Buyout nicht ohne Risken, aber Wolfgang Leitner verfügte über außerordentlich gute Karten. Seit 1997 bis kurz vor Abschluss des Deals saß Leitner gemeinsam mit seinem langjährigen Freund aus McKinsey-Zeiten Dieter Schossleitner im Vorstand der AGIV, des Verkäufers also. Und als Käufer verfügte wohl niemand über ein derartiges Insiderwissen wie der Vorstandsvorsitzende und langjährige Finanzchef der Andritz AG: Wolfgang Leitner.

Für den gewagten Sprung zum Großindustriellen benötigte der Mann, von dem Vorstandskollege und 1-Prozent-Andritz-Eigner Bernhard Rebernik sagt, er sei einer der intelligentesten Menschen, die er je in seinem Leben kennen gelernt habe, zweierlei: Banker mit Vertrauen und einen versierten Profi im trickreichen Metier der Firmenübernahme. In beiden Fällen hatte Leitner Glück. Ein Konsortium aus Bank Austria, Oberbank und RZB streckte ihm das notwendige Kleingeld vor; etwas eleganter nennt man diesen Vorgang Brückenfinanzierung. Und mit Kurt Stiassny fand Leitner auch einen echten Profi für das Zweitere. Stiassny, heute Aufsichtsratsvorsitzender der Andritz AG, beschäftigt sich seit 24 Jahren ausschließlich mit Unternehmensbeteiligungen, erst als CA-Mitarbeiter, später als Chef der Beteiligungsgesellschaft UIAG. Der ehemalige Harley-Davidson-Fahrer hat unter anderem die Börsegänge von Binder, Wolford, Palfinger, Libro und Bene begleitet. Andritz wurde sein bislang größter Deal. „Kein Finanzinvestor kann einen Anlagenbauer wirklich bis ins letzte Detail durchschauen“, lächelt Stiassny, „aber wir haben schnell erkannt, dass Andritz eine Perle ist, die Leitner und Rebernik aufgehoben haben. Und es gab ein erstklassiges Management, das selbst Risiko übernahm. Dazu kommt: Wolfgang Leitner ist eine seltene Mischung. Ein Manager, der Visionen hat, aber auch vorsichtig ist und sich nicht blenden lässt.“

Was aber trieb Wolfgang Leitner zu dem riskanten Deal? „Ich wollte im marxistischen Sinn Arbeit und Kapital miteinander verbinden“, schmunzelt Leitner. „Ich dachte mir: Wenn ich schon meine Arbeitszeit mit Andritz verbringe und auf der anderen Seite durch den Verkauf von Pharmavit Geld habe, warum sollte man diese beiden Elemente nicht kombinieren? Ich habe das dann mit meiner Frau diskutiert, so wie wir es bei allen großen Dingen machen. Wir haben es in Ruhe besprochen und sind zu dem Schluss gekommen: Es macht Sinn.“ Es machte Sinn, aber es sollte ein Drahtseilakt werden.

Der Deal klappt. 10. September 1999: Die Andritz AG geht um 450 Millionen Euro über den Tisch. 425 davon müssen sofort bezahlt werden. Die gute Nachricht: Auf den Konten der Andritz AG liegen rund 225 Millionen Euro Cash als Liquiditätsreserven, die zur Begleichung des Kaufpreises abgeräumt werden können. Den Rest müssen die Käufer selbst anteilig mit eigenem und geborgtem Geld aufbringen: Wolfgang und Cattina Leitner über ihre Custos-Stiftung 25 Prozent und die Finanzinvestoren Carlyle (47,5 Prozent), die UIAG (17 Prozent) und die Deutsche Beteiligungs AG DBAG (acht Prozent).

Für den Erwerb wird eine gemeinsame Kaufgesellschaft gegründet, die Implementa GmbH, an der die Leitners 25 Prozent und die UIAG zusammen mit den anderen Finanzinvestoren 75 Prozent halten, die spätestens in zwölf Monaten wieder mit großem Gewinn und nach einem Börsegang aussteigen wollen.

Der Verkauf ging, wie geplant, klaglos über die Bühne, doch plötzlich und unerwartet beendete Anfang 2000 der große Börsencrash das weltweite Aktienfieber. Der für Herbst 2000 geplante Börsegang musste in letzter Sekunde mangels Nachfrage abgeblasen werden. „Wir standen plötzlich vor einem schwierigen Marktumfeld“, erinnert sich Leitner. „Head war am Tag davor an die Börse gekommen, und die Nachfrage war völlig weggebrochen. Es war eine heikle Situation. Die Pressekonferenz für unseren Börsegang war schon anberaumt. Ich habe sie dann dennoch gehalten, um zu sagen, dass wir nicht an die Börse gehen.“

Das Management-Buyout blieb eine Zitterpartie. Nach dem Börsenkrach im Jahr 2000 war den Anlegern die Lust auf Aktien gründlich vergangen. Für Juni 2001 wurde dann doch ein Börsegang angesetzt, denn die Finanzinvestoren drängten und wollten aussteigen. Vier Millionen Andritz-Aktien sollten unters Volk gebracht werden zu einem Preis, der den Finanzinvestoren hohe Gewinne bescheren sollte. Doch der Markt war immer noch nicht danach, das Projekt schien zu scheitern.

In der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt kommt es zu einer dramatischen mitternächtlichen Sitzung. Bestehen die Finanzinvestoren auf den vollen Börsegang, können zwar sie selbst mit Gewinn aussteigen, doch der größte Teil der Aktien könnte nicht am Markt platziert werden. In der Folge würde die Zwischenfinanzierung platzen, die übrigen Investoren, darunter auch Wolfgang Leitner, müssten verkaufen, der großindustrielle Traum wäre geplatzt. „Wir haben Bankvorstände aus dem Bett geholt und versucht, Carlyle und die anderen zu überzeugen, den großen Börsegang zu verschieben. Wäre das nicht gelungen, wäre Andritz filetiert worden und auf die Bereiche Papier, Zellstoff und Edelstahl aufgeteilt worden“, konstatiert Kurt Stiassny. „Das war eine Situation, wo man nicht mehr weiß, wo links oder rechts ist“, seufzt Wolfgang Leitner. „Stiassny hat tatsächlich alle Investoren ins Boot bekommen, sodass die gesagt haben, wir machen jetzt nur eine Kapitalerhöhung und verkaufen selbst nichts. Für Finanzinvestoren war das durchaus eine schwierige Entscheidung.“

Erstaunlicherweise ließen sich die knallharten Fondsmanager breitschlagen, nicht nur auf schnelles Geld zu verzichten, sondern auch noch eine sündteure Akquisition zu finanzieren: Im Jahr 2000 hatte die Andritz AG um 825 Millionen Schilling Cash (heute rund 60 Millionen Euro) die erste Hälfte des finnischen Zellstoffkonkurrenten Ahlstrom erworben. Jene 42 Millionen Euro, die der erste Börsegang 2001 hereinspülte, wurden gleich wieder für die zweite Hälfte von Ahlstrom ausgegeben. Es war wie Zen für Hedgefondsmanager.

Der Plan ging auf. Im Juni 2003, beim zweiten Börsegang – im Finanzkauderwelsch Secondary Public Offering genannt –, gingen problemlos rund 5,7 Millionen Andritz-Aktien über den Tresen und spülten die stattliche Summe von 139 Millionen Euro herein (in alter Währung immerhin 1,9 Milliarden Schilling).

Es war der Moment, auf den die Finanzinvestoren gewartet hatten. Sie reduzierten sofort ihr Aktienpaket von 57 auf zehn Prozent und stiegen schließlich ganz aus. Die Carlyle Group, eines der größten Investmenthäuser der Welt, das nach dem gleichnamigen New Yorker Hotel benannt ist, seinen Sitz zwischen Capitol und Weißem Haus in Washington hat und an dem auch Bin Ladens älterer Bruder Salim beteiligt war, publizierte nach dem Andritz-Deal stolz, sie habe ihr Investment bei dem Grazer Maschinenbauer in nur zweieinhalb Jahren verdoppelt.

Trotzdem sind die ausgebufften Finanzprofis wohl zu früh ausgestiegen. Seit 2003 hat sich der Kurs der Andritz-Aktie nämlich fast versiebenfacht (von 22,75 Euro Emissionskurs auf derzeit 144 Euro). Ächzt UIAG-Boss Stiassny: „Das ,Wenn i …, hätt i …‘ ist eben der ständige Stoßseufzer des Finanzinvestors.“

Das System Andritz? In den Auftragsbüchern der Andritz AG stehen derzeit Bestellungen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro, und in diesem Jahr wird der Konzern einschließlich der neu eingekauften VA Tech Hydro Anlagen und Services um rund drei Milliarden Euro verkaufen. Was aber produziert dieser Konzern eigentlich? Nun, die Andritz-Gruppe liefert in fünf verschiedenen Geschäftsbereichen eine Vielzahl von Maschinen und Anlagen, in Ausnahmefällen auch schlüsselfertig samt Gebäude. Das sind zum Beispiel riesige Zellstoff- und Papiermaschinen, mit denen Klopapier, Küchenrollen, Taschentücher etc. hergestellt werden. Man produziert große Pumpen und Turbinen für Wasserkraftwerke, Verzinkungsanlagen für die Autoindustrie, Trocknungsanlagen zum Beispiel für üble Schlämme, aber auch solche zur Herstellung von Kartoffelchips oder Waschpulver, weiters Anlagen zur Produktion von Biotreibstoff und industrielles Futter (für Schweine, Kühe, Lachse usw.) und etliches andere wie die schon erwähnten Palmölpressen.

10.000 Mitarbeiter beschäftigt der Konzern inzwischen, die meisten im Ausland, in China und Indien genauso wie in den USA oder Singapur und natürlich auch in etlichen europäischen Ländern. In Österreich stehen derzeit 2600 Menschen auf der Andritz-Lohnliste. Im Grazer Stammwerk arbeiten allerdings nur mehr 400 Beschäftigte in der eigentlichen Produktion, also dort, wo es laut ist und nach Maschinenöl riecht. Man darf sich mithin die Sache nicht so vorstellen, dass in einer steirischen Werkshalle begnadete Ingenieure und Facharbeiter Maschinen für die ganze Welt zusammenbasteln.

Fallbeispiel. Wie das System Andritz funktioniert, wollen wir uns am Beispiel einer Feuerverzinkungsanlage ansehen. So ein Ding kann bis zu 700 Meter lang und 60 Meter hoch sein und veredelt Stahlbleche zum Beispiel für die Autoindustrie – Autos rosten so weniger. Oder für Kühlschränke, zum Beispiel von Bosch oder Siemens.

Der Stückpreis einer solchen „Mach es rostfrei“-Anlage liegt bei etwa 70 Millionen Euro. Inklusive Gebäude und allen Drum und Drans kostet das Package 100 Millionen Euro. Die modernste Anlage dieser Art steht übrigens nicht in Europa, sondern in China bei Schanghai. Andritz ist der einzige Komplettanbieter derartiger Edelstahlveredlungsanlagen und weltweit Marktführer, was aber real nur etwa acht Prozent Marktanteil entspricht.

Wenn nun ein solcher Auftrag an Land gezogen wird, was üblicherweise erst nach einer Ausschreibung passiert, kommt eine weltweite Arbeitsteilung in Gang, die erst durch die moderne Globalisierung möglich wurde. Kommt die Order aus Europa, werden drei europäische Andritz-Töchter beauftragt: Andritz-Ruthner in Wien, Sundvig in Deutschland und Termtec in Holland. Kommt der Auftrag aus dem Dollar-Raum, beginnen zwei Andritz-Töchter in den USA, genauer in Indiana, mit dem Bau.

Auf jeden Fall beigezogen wird die Andritz-Tochter im indischen Bangalore, wo rund 50 Ingenieure zu ortsüblich niedrigen Tarifen im Andritz-Sold stehen. Allein für die erste Planung sind etwa 80.000 Ingenieurstunden notwendig. Doch wer denkt, Andritz baue alles selber, ist auf dem Holzweg. Bis zu 70 Prozent der Anlagenteile stammen von rund 250 verschiedenen Sublieferanten. Die sitzen bei diesem Anlagentyp in Slowenien, Ungarn, Polen, Tschechien, Korea, Indien und China.

Glaubt man an Murphys Gesetz („Was schiefgehen kann, geht auch schief“), kann so ein System gar nicht funktionieren, weil immer ein Lieferant Mist baut und die anderen Lieferanten wie Dominosteine mit sich zieht. Aber es funktioniert. Das liegt an modernen Koordinationstechniken und auch an Männern wie Andritz-Vorstand Franz Hofmann, der – für Branchenfremde sehr erstaunlich – mit dem Brustton der Überzeugung sagt: „Meine Leidenschaft sind Walzwerke und Bandanlagen. Ich habe mein ganzes Leben damit zugebracht.“

Der ganze Koordinationswahnsinn wird noch durch die branchenübliche Berg-und-Tal-Fahrt verstärkt. „Das Stahlgeschäft ist sehr zyklisch“, weiß Hofmann aus langjähriger Erfahrung. „Die Regel ist: Es gibt drei gute und sieben schlechte Jahre. Derzeit erleben wir einen besonders langen Boom.“ Sollte der nachlassen, sorgt eine Menge anderer Bereiche für Auslastung. Derzeit baut Andritz zum Beispiel die größte Klärschlammtrocknungsanlage der Welt in Singapur. Deren Prinzip ähnelt dem, was die Nomaden in Tibet schon lange wissen: Trockne Yak-Gacke und nutze sie als Brennstoff. Auf Europa übertragen bedeutet dies: In London und seit Kurzem auch in Paris wird die braune Brühe aus der Kanalisation mit Andritz-Technologie eingedickt (Trocknungsgrad 92 Prozent), verbrannt und in elektrischen Strom verwandelt. Die Technik, eigentlich ein Spin-off aus dem Papiermaschinenbereich, erscheint mittlerweile immer mehr Kommunen attraktiv. Im englischen Middleborough steht eine Andritz-Anlage, die so viel Schlamm trocknet, wie i
• Österreich in einem ganzen Jahr anfällt. Aber auch die Aluminiumindustrie in Brasilien oder die Kohleminen in Russland und der Ukraine nützen diese Andritz-Technologie.

Wachsen, wachsen, wachsen. In den letzten 15 Jahren wandelte sich Andritz von einem Lizenznehmer anderer Maschinenhersteller zu einem eigenen Hightech-Unternehmen. Der Know-how-Schub erfolgte vor allem über den Zukauf spezialisierter Unternehmen weltweit. Die Akquisitionen verfolgten aber, wie schon erwähnt, noch zwei andere Ziele:

• Andritz in allen Geschäftsbereichen zum Komplettanbieter zu machen, beispielsweise alle Maschinen anbieten zu können, vom Holzplatz bis zum Zellstoffendprodukt.

• Der Konzern will, wenn irgend möglich, in allen Bereichen Marktführer sein.

Die lange Reihe der Unternehmenszukäufe begann 1990 mit dem Kauf des Holzstoffherstellers Sprout-Bauer, bei dem Andritz auch kräftig Lehrgeld zahlte. Es folgte eine lange Liste von Akquisitionen1), von denen die Übernahme der VA Tech Hydro um 190 Millionen Euro heuer die spektakulärste war.

Der Druck zum Wachstum kommt auch vom Markt selbst, denn die Konkurrenz schläft nicht. Ein Beispiel: Der umsatzmäßig wichtigste Bereich des Grazer Anlagenbauers sind Papier- und Zellstoffanlagen, vom Holzplatz bis zu der Stelle, wo die Bounty-Küchenrolle rauskommt. Dort sah sich Andritz zuletzt als Nummer eins, als der größte Rivale, die finnische Metso-Group, vor Kurzem beschloss, die Nummer drei auf dem Weltmarkt, die norwegische Kvaerner AG, zu schlucken. Genehmigt die EU diesen Deal, rutscht Andritz mit größerem Abstand wieder auf Platz zwei ab.

Vom Nischen-Player zum Big Player. Am 17. Februar dieses Jahres erwarb Wolfgang Leitner für rund 190 Millionen

Euro die VA Tech Hydro, die von Eigentümer Siemens auf Druck der Brüsseler Wettbewerbshüter verkauft werden musste. Dieser Hersteller von Turbinen und Generatoren für Wasserkraftwerke, aber auch Gas-Kombikraftwerke erwirtschaftete zuletzt mit 3000 Mitarbeitern rund 900 Millionen Euro Umsatz. Die VA Tech Hydro war in der langen Reihe der hochkarätigen Andritz-Akquisitionen nicht nur wegen ihrer Größe eine Ausnahme. Üblicherweise meidet Wolfgang Leitner sowohl feindliche Übernahmen als auch preistreibende Auktionen wie die Pest. In diesem Fall war alles anders, und Leitner musste gegen KTM-Chef Stefan Pierer und dessen Konsortium antreten, dem unter anderem auch der Wiener Baukonzern Porr und der frühere steirische ÖVP-Landesrat Herbert Paierl angehörten. Stefan Pierer verlor die bis zuletzt spannende Pokerrunde. Er hatte zu wenig, nur 160 Millionen Euro geboten.

Wolfgang Leitner hatte freilich gute Gründe, tief in die Taschen zu greifen. Die Akquisition der VA Tech Hydro zeigt geradezu exemplarisch die Leitner’sche Expansionsstrategie. Die Maschinenfabrik Andritz baute schon vor 130 Jahren Turbinen, aber ab 1949 ein halbes Jahrhundert lang nur mit geborgter Technologie, nämlich auf Basis von Lizenzen des Schweizer Anlagenbauers Sulzer (früher Escher-Wyss). Als die Sulzer AG 1999 von der VA Tech Hydro geschluckt wurde, drehte der neue Eigentümer dem kleinen Konkurrenten Andritz sofort die Lizenzen ab. Die Folge: Der Turbinenbau bei Andritz geriet in eine Krise. Der auch für den Bereich Hydro zuständige Vorstand Friedrich Pabst sagt: „Es war eine schwierige Situation. Wir überlegten: Tun wir weiter, oder geben wir auf.“

Man entschied sich fürs Durchtauchen, obwohl der Umsatz im Jahr 2000 im Bereich Turbinen und Pumpen auf 20 Millionen Euro absackte. Der kletterte zwar inzwischen wieder auf rund 100 Millionen Euro, aber das waren immer noch Peanuts verglichen mit dem rund 650-Millionen-Euro-Umsatz, den die VA Tech Hydro in diesem Bereich (ohne kalorische Kraftwerksanlagen) machte. Nach der Übernahme sieht die Welt der Kraftwerke für Andritz grundlegend anders aus. Pabst: „Wir waren in diesem Bereich ein kleiner, erfolgreicher Nischen-Player. Nach der Übernahme sind wir auf dem Weltmarkt neben Voith-Siemens die Nummer zwei geworden. Nur die französische Alstom-Gruppe ist noch größer.“

Auf Einkaufstour. Obwohl er persönlich immer reicher wird, ist Wolfgang Leitners Freizeit knapper bemessen denn je. „Er ist einer der am härtesten arbeitenden Vorstände, die ich kenne“, konstatiert Kurt Stiassny. „Leitner ist ein liebevoller Vater, telefoniert mit seinen Kindern aus aller Welt und gibt Tipps für die Matheschularbeit. Aber im Grunde hat er wahrscheinlich heute weniger Zeit für seine Familie als vor fünf Jahren.“

Das mag an der weltweiten Einkaufstour liegen, auf die sich der Andritz-Großaktionär mit seinem Privatjet, einer achtsitzigen Citation Excell, seit Jahren begibt. Der Kauf eines neuen Unternehmens irgendwo zwischen Bangalore, Singapur und Oslo ist inzwischen business as usual. Es existiert sogar schon so etwas wie ein internes Handbuch: So kaufe und integriere ich eine Firma. „Die Akquisition ist sicher eine meiner Hauptaktivitäten“, sagt der Konzernchef. „Bei allen Planungsgesprächen, bei allen Budgetkonferenzen ist stets ein fixer Punkt, welche Firmen interessieren uns, mit wem reden wir. Da sind oft Projekte dabei, die haben Vorlaufzeiten von fünf oder mehr Jahren. Es gibt Familienunternehmen, wo die Familie erst sagt: Nein, das steht nicht zum Verkauf, aber später melden die sich, oder ich klopfe einmal im Jahr an, und wir gehen gemeinsam essen. Oft ist es auch so, dass ein geschäftsführender Gesellschafter sagt: Gut, ich bin interessiert, aber ich bin in einem Alter, wo ich noch drei Jahre weitermachen möchte. Da findet sich dann meist eine Lösung.“

Ja, Konzerne wachsen wie ein rollender Schneeball, aber manchmal kommt ein noch größerer daher. Könnte es nicht sein, dass bei Wolfgang Leitner einmal jemand anklopft mit einer dicken Hedgefonds-Brieftasche? Könnte es sein, dass Wolfgang Leitner, dessen Privatstiftung jetzt wahrscheinlich noch Kredite bedient, früher oder später sein vielleicht schon bald 500 Millionen Euro dickes Aktienpaket versilbern möchte, um als passionierter Opernliebhaber ohne Zeitdruck Anna Netrebko zu lauschen und statt 50-Stunden-Wochen lieber mit seinem Mischlingshund Nocki rumzuspazieren?

„Schauen Sie“, lächelt Wolfgang Leitner auf seine sehr sympathische, bescheidene Art, „rational bin ich ein Investor. Und für einen Investor gibt es immer einen Preis, zu dem er verkauft. Aber emotional bin ich natürlich mit dem Unternehmen sehr verbunden. Ich bin jetzt 53 und habe einfach nicht das Bedürfnis, auf einer Insel rumzusitzen.“
Die Insel muss warten.

Von Karl Riffert

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