Internet-Klassenkampf: Telekomkonzerne
wollen Google & Co zur Kasse bitten
Das Datenvolumen im World Wide Web explodiert. Die europäischen Telekomkonzerne wollen die boomenden Content-Lieferanten aus den USA wie Google und Apple zur Kasse bitten. Die Folge ist eine völlige Neuordnung des Internets.
Von Michael Moravec
Eric Schmidt liebt das Spiel mit großen Zahlen. Vom Anbeginn der Zivilisation bis etwa zum Jahr 2000, so errechnete der Vorstandschef von Google, hat die Menschheit rund fünf Exabytes (fünf Milliarden Gigabytes) an Informationen produziert. Alle Steintafeln, Schriftrollen, Bücher, Gemälde, Briefe, Filme, Fotos, Videos und andere jemals geschaffenen Datenträger aus dieser Zeitspanne lassen sich also auf rund 1,1 Milliarden DVDs abspeichern. Heute, rückt Schmidt die Perspektiven zurecht, wird die gleiche Menge an Informationen alle zwei Tage erzeugt. Das Gesamtvolumen aller im Internet verfügbaren Daten hat laut Branchenanalysten von IDC in der ersten Augustwoche die historische Grenze von einem Zettabyte überschritten: 1000 Milliarden Gigabyte. Und 2020 sollen es 35 Zettabyte sein. Entsprechend massiv wächst auch der Datenverkehr: von 15 Exabyte pro Monat 2009 auf 64 Exabyte bis 2014.
Über den damit verbundenen kostspieligen Ausbau der Glasfaser- Infrastruktur und die Finanzierung des Webs der Zukunft hat nun ein Streit begonnen, der das Internet in seiner innersten Struktur verändern könnte. Im Wesentlichen geht es dabei um die Aufteilung des lukrativen Geschäfts mit den Daten. Auf der einen Seite stehen die aus Europa stammenden Telekommunikationskonzerne wie die spanische Telefónica, Deutsche Telekom, France Télécom oder Vodafone; sie stellen die Netze zur Verfügung. Ihre Kontrahenten sind die US-Content-Riesen wie Google, YouTube, Apple als größter Musikhändler, Facebook, Twitter oder Yahoo. Diese Content-Provider so die Position der Telekomkonzerne würden die Leitungen zum Nulltarif nützen und Milliardengewinne einstreifen, während die Netzbetreiber immer weiter investieren müssten und vom Boom kaum etwas abbekämen. Mit einem Blick in die Bilanzen ist diese Argumentation nicht von der Hand zu weisen: Die Deutsche Telekom hat 2009 bei einem Umsatz von 64,6 Milliarden Euro einen vergleichsweise mageren Gewinn von 400 Millionen Euro erreicht, während Google bei einem Umsatz von nur 23,6 Milliarden Dollar 6,5 Milliarden als Reingewinn blieben. Ähnlich ist die Relation bei Apple, das allein in den vergangenen drei Quartalen bei einem Umsatz von 44,8 Milliarden Dollar fast 13 Milliarden verdiente.
Das soll nun nach dem Willen der Telekomkonzerne anders werden: Nicht nur die Endkunden sollen für ihre Internetanschlüsse zur Kasse gebeten werden, auch die Apples, Facebooks und Googles dieser Welt sollen bezahlen, wenn sie ihre Datenpakete im immer größer werdenden Stau bevorzugt behandelt sehen möchten. Wenn die Deutsche Telekom besondere Netzsicherheit oder höchste Übertragungsqualität zum Beispiel für Musik oder Video bietet, muss dies auch differenziert bepreist werden, stellte der Chef der Deutschen Telekom, René Obermann, kürzlich klar. Entsprechende Diskussionen mit Diensteanbietern wie Google seien bereits angestoßen.
Geteilte Datenautobahn.
Damit berühren die Netzbetreiber aber ein bisher heilig gehaltenes Grundprinzip: die so genannte Netzneutralität. Bisher galt, dass Daten unabhängig von Versender und Standort gleichbehandelt werden. Doch nun deutet alles darauf hin, dass die überfüllten Datenautobahnen künftig in Spuren unterteilt werden: eine, über die Normalverbraucher und Unternehmen, die nicht zusätzlich zahlen können oder wollen, ihre Datenpakete verschicken, und eine schnelle Spur, die für die großen Datenvolumina der finanzkräftigen Sonderzahler reserviert ist. Kritiker bemängeln, dies würde vor allem den Gründercharakter des Internets auslöschen: Junge Start-ups wären gegenüber den alteingesessenen Konzernen grob benachteiligt.
USA gegen EU.
Nicht wenige Experten sehen in der aktuellen Diskussion den Beginn des großen Kampfs um die Macht im Internet. Michael Krammer, Chef des Handynetzbetreibers Orange Österreich, einer Tochter der France Télécom, ortet kontinentale Konflikte: Netzneutralität bedeutet eine Stärkung der USA und eine Schwächung der EU. Die globalen Telekomkonzerne kommen aus Europa, die großen Content-Provider aus den USA. Eine Navigationsanwendung zum Beispiel könne so programmiert werden, dass sie einen Datentransfer von 100 Megabyte benötige, um zu einem Ergebnis zu kommen, aber das gleiche Ziel könne auch mit nur zehn Megabyte erreicht werden. Das allerdings setzt einen erhöhten Programmieraufwand voraus, der sich aber nicht lohnt, wenn ich nicht auf den Datenverkehr achten muss. Dem Anbieter der Navigationssoftware werde also durch die Netzneutralität eine höhere Wertschöpfung ermöglicht auf Kosten der Netzbetreiber.
Für den Konsumenten ergäbe sich dadurch ein ziemlich unübersichtlicher Markt: Die Angebote der Internet-Provider würden sich nicht nur durch Preis und Bandbreite, sondern auch durch die entsprechenden Verträge mit den Content-Konzernen unterscheiden. Und der datenhungrige Konsument würde schlussendlich zweimal zur Kasse gebeten: einmal, um überhaupt einen Anschluss zu bekommen, und dann auch noch für Content-Spezialpakete, mit denen datenintensivere Anwendungen etwa HD-Videos freigeschaltet würden.
Genau in diese Richtung zielt auch eine Absichtserklärung, die Google Mitte August mit dem US-Netzbetreiber Verizon abschloss und die für gewaltigen Wirbel und große Überraschung sorgte. Dem Titel der Vereinbarung, Gemeinsamer Vorschlag für ein offenes Internet, folgt inhaltlich genau das Gegenteil: Das Internet soll künftig von Grenzen und Zollschranken durchzogen werden. Im Kern soll nach den Plänen der beiden Marktriesen nicht nur eine neue Fahrspur, sondern gleich ein zweites, neues Internet entstehen. Im ersten, alten Internet würden weiterhin alle Marktteilnehmer gleichbehandelt. Das zweite, schnelle Internet soll für neue Anwendungen zur Verfügung stehen. Anders ausgedrückt: Investitionen erfolgen dann nur noch in das neue Netz.
Das Überraschende: die Partnerschaft eines Content-Providers mit einem Feind, einem Netzbetreiber. Branchenanalysten sehen darin Googles Flucht nach vorne. Krammer meint: Offenbar ist der Druck der Telekomkonzerne zu groß geworden. Und bevor Google Gefahr läuft, selbst zur Kasse gebeten zu werden, entwickelte man rasch ein Modell, bei dem der Konsument zahlt. Bei der Datenübertragung via Mobilfunk sollen die Netzbetreiber laut Verizon-Plan überhaupt nach Belieben Inhalte beschleunigen oder bremsen können. Auf diese Weise wäre auch die Netzneutralität im alten Internet ausgehebelt, schließlich ist die Datenübertragung via Mobilfunk das Wachstumssegment schlechthin: Der Netzwerkausrüster Cisco prognostiziert bis 2014 eine Zuwachsrate von 108 Prozent. Pro Jahr. Hannes Ametsreiter, Chef des österreichischen Marktführers Telekom Austria, lässt sich noch alle Möglichkeiten offen: Wir unterstützen das Prinzip eines offenen Internets mit fairen Zugangsmöglichkeiten, sehen aber gleichzeitig die Notwendigkeit, für besondere Dienste bzw. in Engpasssituationen eine gewisse Flexibilität im Sinne der Kunden zuzulassen.
Spott und Hohn.
Das Verizon-Abkommen stellt eine echte Kehrtwende in der Geschäftspolitik Googles dar: Bisher hatte sich der Konzern stets als Wächter des offenen und freien Internets geriert. Der New Yorker Internet-Guru Jeff Jarvis gab dem neuen Internet auch prompt einen Namen, der an Google-Chef Schmidt erinnern soll: Schminternet. Und er veröffentlichte einen fiktiven Dialog, der seiner Meinung nach bald Wirklichkeit werden könnte: Ein User will unterwegs über YouTube ein Video abrufen und bekommt am Handy die Fehlermeldung Nicht mehr verfügbar. Im Callcenter seines Netzbetreibers wird ihm dann mitgeteilt, dass es das Videoportal im Internet leider nicht mehr gibt, sondern nur noch im Schminternet. Ich verbinde Sie gerne mit einem Kundenbetreuer, der Ihnen Gebühren, Beschränkungen und Regeln erklärt.
Die neuen Inhalte müssten jedenfalls legal sein, heißt es überdies im Google-Verizon-Papier. Und damit ist nicht gemeint, dass der Internet-Inhalt den Gesetzen eines Landes zu entsprechen habe, sondern dass er künftig auch der Firmenpolitik gefallen muss: Apple hat etwa neben erotischen Inhalten auch schon ihm unangenehme Satireportale aus seinem Anwendungs-Store verbannt und Diskussionen um die verunglückte iPhone-4-Antenne schlicht gelöscht. Geschichtsfan und Datensammler Schmidt könnte diese schleichende Einführung einer Zensur im Netz noch einen wenig schmeichelhaften Titel eintragen: der Internet-Metternich.