Das Goldene Kalb der Götter in Weiß
Das Gesundheitswesen ist zum Selbstbedienungsladen mutiert. Pharmaindustrie, Krankenkassen, Spitäler, Apotheker, Gerätehersteller sowie niedergelassene Ärzte sind Nutznießer des Systems. Die dringend notwendige „Operation Gesundsparen“ wird ein besonders heikler Eingriff in geliebte, aber zu teuer gewordene austriazensische Traditionen.
Irgendwie macht man sich Sorgen, ob der Zeitpunkt richtig gewählt ist. Ausgerechnet jetzt, zu Beginn der nasskalten Jahreszeit, soll in Österreich flächendeckend über das marode Gesundheitssystem debattiert werden. Ausgerechnet jetzt, da eitrige Halsentzündungen, fieberhafte Infekte der Atemwege und simple Stockschnupfenattacken tausende und abertausende Menschen in Arztpraxen, Apotheken und in den Krankenstand treiben, ausgerechnet jetzt wird wieder einmal laut über Selbstbehalte, Rezeptgebühren und Spitalskosten, über Beitragserhöhungen, Leistungseinschränkungen und das Ende des solidarischen Gesundheitssystems philosophiert. Schon die im Laufe des Supersommers abgegebenen Wortmeldungen zum sensiblen Mega-Thema sind dazu angetan, heftige Kopf- und Magenschmerzen auszulösen; doch darf man sicher sein, dass die Schmerzdosis in diesem Herbst noch weiter erhöht wird:
Mitte Oktober, der Tag ist noch nicht endgültig fixiert, lädt Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat zum großen „Reformdialog“. Im prunkvollen Rahmen der Hofburg werden die wichtigsten Lobby-isten medienwirksam an einem Tisch sitzen, samt einigen handverlesenen Experten. Schon jetzt weiß der Ministersekretär nicht mehr, wie er alle Interessenten auf der Rednerliste unterbringen soll, denn „zu fünfzigst an einem Tisch hat auch keinen Sinn“.
17 Milliarden für Gesundheit. Viele der Insider klagen, dass die anrollenden Verhandlungen noch viel schwieriger als die Pensionsdebatte zu führen sein werden – der Grund ist klar: Es fließt in diesem Bereich unendlich viel Geld. Im Jahr 2002 wurden in Österreich sage und schreibe 17,088 Milliarden Euro – 235 Milliarden Schilling! – an „Gesundheitsausgaben“ getätigt. Grob gerechnet werden rund zwei Drittel davon, also 11,707 Milliarden Euro, von den Steuerzahlern berappt. Fast genau jeder Zehnte aller in Österreich Beschäftigten arbeitet bereits im oder für das Gesundheitswesen.
Für den Finanzminister ist „Gesundheit“ zu einem Fass ohne Boden geworden; die „kranken Kassen“ wurden ebenso zum Feindbild stilisiert wie die angeblich stets krankfeiernden Eisenbahner.
Auf der anderen Seite verdienen ganze Wirtschaftszweige an diesem System noch immer sehr gut. „Gesundheit und Medizin sind das Geschäft der Zukunft“, steht etwa auf der Website der Gesundheitsmesse „Medicura 2004“ zu lesen. „Die rasante Entwicklung im Bereich der medizinischen Forschung und der Medizintechnik machen die Gesundheit zu einem der am stärksten boomenden Marktsegmente. Daraus ergeben sich für uns … ungeahnte Möglichkeiten“, formuliert der Veranstalter.
Permanent finden Gesundheitsmessen und Ärztekongresse statt. Vom 1. bis 4. Oktober steigt in Badgastein das sechste „European Health Forum“; am 13. und 14. Oktober wird im Wiener Marriott „Puls 2003 – 5. Jahreskongress für das Gesundheitswesen“ veranstaltet, und vom 24. bis 26. Oktober sorgt man sich auf dem „3rd world congress on men’s health“ um erektile Dysfunktion und Osteoporose. Als Rahmen-
programm wird bei diesen Events hoch- wie inoffiziell hauptsächlich übers liebe Geld – und wo es denn in Zukunft herkommen soll – debattiert.
Die viel beklagten „explodierenden Kosten des Gesundheitssystems“ haben dem Krankheitsbusiness in den vergangenen Jahren gesunde Geschäfte beschert; bei aller Sorge ums labile Gesamtsystem eint Apparatehersteller und Pharmaindustrie, Spitalsbauer und Pflegedienste vor allem eines: Sie wollen weiterhin kräftig verdienen. Neben den kleinen, ohnmächtigen Patienten zittern also auch große Medikamentenhersteller und wohlbestallte Primarärzte vor möglichen finanziellen Amputationen.
Erfundene Krankheiten? Eine mächtige Lobby steht zurzeit auf der Reformbremse. Ärztekammer-Präsident Reiner Brettentaler etwa wirft der Gesundheitsministerin vorsorglich „manischen Sparzwang“ vor. Und wagt man, das Thema „Arzneimittelverbrauch“ auch nur in den Mund zu nehmen, wird die Pharmaindustrie radikal: „Eigentlich sollte man einmal eine Woche lang keine Medikamente ausliefern, dann würden wir sehen, was Medikamente für die Welt bewirken“, posaunt da etwa der Chef des Medikamentenerzeugers Novartis, Christian Seiwald, in Richtung Politik.
Niemand außer einigen Politikern und Gesundheitsökonomen hat also ernsthaftes Interesse an einem sparsam wirtschaftenden Gesundheitswesen. Der deutsche Wissenschaftsautor und Journalist Jörg Blech geht sogar noch einen Schritt weiter. Er sagt sinngemäß, dass die Industrie letztendlich auch kein Interesse an einer gesunden Bevölkerung haben kann, ja dass im Gegenteil systematisch an der „Abschaffung der Gesundheit“ gearbeitet werde.
In seinem Buch „Die Krankheitserfinder“ beschreibt der „Spiegel“-Autor, wie kerngesunde Leute zu Patienten gemacht werden: „Systematisch erfinden Pharmafirmen und Ärzte neue Krankheiten. Darmrumoren, sexuelle Unlust oder Wechseljahre – mit subtilen Marketingtricks werden Phänomene des normalen Lebens als krankhaft dargestellt. Die Behandlung von Gesunden sichert das Wachstum der Medizinindustrie.“ Trauriger Zusatz: „Und die Krankenkassen müssen für diesen Großtrend im Gesundheitswesen zahlen.“
In Deutschland, so Blech, würden 500 Millionen Euro jährlich für Östrogen-Präparate ausgegeben, „jede ältere Dame erhält das routinemäßig“. Auch die sukzessive Herabsetzung des Cholesterin-Grenzwerts auf Minimalhöhe sei medizinisch nicht mehr nachzuvollzie-hen – mache aber tausende Menschen über Nacht zu Dauer-Medikamentenschluckern.
Marketingmaschine Pharmaindustrie. Getrost kann man diese Diagnose auch auf Österreich umlegen. Hier wie dort pumpen die Pharmakonzerne rund ein Drittel ihres Gesamtbudgets ins Marketing. Sämtliche Ärztekongresse werden von ihnen finanziert. Ärzte werden zu Tagungen rund um den Globus eingeladen; im Durchschnitt erhält jeder praktizierende Arzt einmal pro Arbeitstag einen Besuch von einem Pharmavertreter, und alles in der Absicht, sie zu braven Medikamentenverschreibern zu erziehen. „Ja, wir haben es hier mit einem mächtigen Visavis zu tun“, sagt Johann Kandlhofer, Geschäftsführer des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger, Österreichs oberster Krankenkassenchef und, zumindest indirekt, „Hauptzahler“ im System.
Aus seiner Sicht sind die Österreicher schwer leidende Menschen: 2,2 Milliarden Euro gaben die Kassen im Jahr 2002 allein für Medikamente aus; von Jänner bis Juli 2003 stiegen die Ausgaben um satte acht Prozent, von 1992 bis 2002 um 150 Prozent.
Eine unheilige Allianz von eingebildeten Kranken und brav verschreibenden Ärzten hat sich da gebildet; das Resultat ist Medikamentenmissbrauch in unterschiedlichster Form. Eine US-amerikanische Studie ergab, dass ein Drittel aller Gesundheitskosten durch falsch oder nicht eingenommene Medikamente, durch Neben- und Wechselwirkungen überhaupt erst entstehen – offenbar hat sich da ein teuflischer, selbst verstärkender Kreislauf in Gang gesetzt. Antibiotika werden mittlerweile bei jedem Hustenreiz verschrieben, Psychopharmaka auch schon bei gewöhnlicher Traurigkeit geschluckt.
Auf der anderen Seite enden rund ein Viertel aller Medikamente ungeöffnet in Sonder- oder, noch schlimmer, Restmülldeponien. Die Wiener Gebietskrankenkasse gab anlässlich der totalen Sonnenfinsternis 1999 Schutzbrillen aus – gegen „Bezahlung“ mit ungeöffneten Medikamentenschachteln. Innerhalb weniger Tage konnten 157 Hundertlitersäcke mit Pulverln aller Art gefüllt werden.
Krieg mit den Ärzten. Soll die Gesundheitsreform irgendeinen Sinn ergeben, wird aber nicht nur die Pharmaindustrie Federn lassen müssen. Auch die 2,6 Milliarden Euro umfassenden Kassenhonorare für die 34.000 quer übers Bundesgebiet verstreuten „Praktiker“ und Fachärzte sind plötzlich nicht mehr tabu. Die Krankenkassen wünschen sich ein Ende des quasipragmatisierten kassenärztlichen Beamtentums und stattdessen Verträge auf Zeit und genaue Abrechnungen, um jenen Ärzten, die mit Krankenständen und Medikamentenverschreibungen besonders sorglos umgehen, die Rute ins Fenster und notfalls den Behandlungsstuhl vor die Türe stellen zu können. Um diese Themen wird noch heftig gerungen werden; ein Ärztevertreter glaubt, dass der „Krieg“ zwischen Kassen und Ärzten unausweichlich sei. Antiquierte Abrechnungssysteme drängen die Praktiker dazu, möglichst viele Einzel-leistungen zu erbringen – um möglichst viel Cash zu verdienen; nur Vorbeugemaßnahmen zu empfehlen ist nicht lukrativ.
Noch ein Kostenfaktor unter vielen: Seit den siebziger Jahren hat sich die Zahl der Krankenhauseinweisungen nach einem Praktikerbesuch verdoppelt. Der Grund liegt nun nicht darin, dass die Österreicher heute so viel öfter schwere Krankheiten zu ertragen hätten, sondern schlicht darin, dass sich viele Ärzte lieber gut absichern, die Verantwortung für etwaige Fehldiagnosen nicht mehr tragen wollen – und auch bei offensichtlichen Lappalien lieber mal einen Überweisungsschein zu viel ausstellen.
Niemand soll beim großen Gesundheitssparen ungeschoren davonkommen, auch nicht die Apotheker. Exakt 28,9 Prozent dürfen sie auf den Großhandelspreis aufschlagen – damit verdienen sie deutlich mehr als ihre Kollegen im EU-Schnitt.
Defizitäre Kassen. Die „kranken Kassen“ selbst stehen ebenfalls immer wieder im Mittelpunkt der Kritik. 288 Millionen Euro wird, so prognostiziert der Hauptverband, ihr Minus heuer ausmachen, und sollten die Horrorprognosen tatsächlich eintreffen, explodiert das Defizit bis 2005 auf 682 Millionen Euro. Ein Moloch von gewaltigen Dimensionen ist da im Laufe der Jahrzehnte herangewachsen. Zwar werden, wie Kandlhofer frohlockt, „die Verwaltungskosten heuer um zehn Millionen Euro niedriger sein als 1999“, doch der große Schnitt, die Zusammenführung aller Gebiets- und Betriebskrankenkassen zu einer Bundeskrankenkasse, wird wohl niemals Realität werden.
Anarchie im Spital. Heimische Krankenhäuser haben Top-Standard, sind allerdings in der Regel auch top bei der Verschleuderung von Ressourcen. Drei Milliarden Euro pro Jahr blecht der Steuerzahler für die rund 330 heimischen Spitäler, Sanatorien, Pflegeheime – und die Ausgaben steigen mit 4,1 Prozent jährlich überproportional rasch. Das Problem: In zu vielen Betten liegen zu viele Patienten zu lange. Auf 1000 Einwohner kommen 6,2 Betten – in Finnland oder Schweden liegt diese Zahl bei 2,4, und diese Staaten gehören bekanntlich nicht zu den Notleidern.
Bis zu siebzig Prozent der Spitalskosten entfallen aufs Personal. Spitäler sind personalintensive Riesenbetriebe mit hunderten, ja tausenden Beschäftigten, und oft werden sie so ähnlich geführt wie ein Fußballverein in einem Provinznest. „Erst jetzt“, so konstatiert etwa der Spitalsconsulter Christian Bauer, „entdecken die Krankenhäuser schön langsam das Prinzip der effizienten Unternehmensführung. Im Vergleich zu Deutschland oder der Schweiz stehen wir da aber erst ganz am Anfang.“
Zehntausend Überstunden in einer durchschnittlichen chirurgischen Abteilung eines durchschnittlichen Landeskrankenhauses seien keine Ausnahme, sagt der Geschäftsführer von Bauer & Partner; Hauptursache sind eklatante Mängel in der Organisation. Es fehlt etwa an standardisierten Routineabläufen. Häufig warten Ärzte auf Schwestern, Schwestern auf Ärzte, Ärzte und Schwestern auf irgendwo in der Physiotherapie oder in der Röntgenabteilung verschollene Patienten. Auf manchen Stationen ist lediglich eine Morgenbesprechung angesetzt, der Rest des Tages verläuft in zeitverschwenderischer Anarchie. Schlecht vorbereitete Visiten können Pflegepersonal wie Patienten auf Stunden blockieren – was teure Überstunden kostet.
Ein Operationssaal, eine Betriebseinheit, die umgerechnet pro Jahr locker drei Millionen Euro Umsatz macht, wird oft schlechter verwaltet als ein Tennisplatz. Auslastungslücken sind gang und gäbe. Oft müssen Pfleger und Anästhesisten auf den Operateur warten. Manchmal sind pro Tag drei, dann wieder zwölf Eingriffe angesetzt – aber Personal muss immer in ausreichender Zahl vor Ort sein. Bauer hat, aufbauend auf Daten aus 40 Krankenhäusern, ein Simulationsmodell entwickelt, mit dessen Hilfe der optimale Personalbedarf eines Krankenhauses bestimmt werden kann. Gescreent werden Stationen, Am-bulanzen, Operationsbereiche und auch Großküchen. Einige heimische Anstalten haben bereits nach Bauer’schen Ratschlägen ihre Abläufe restrukturiert.
Noch eine unter vielen Systemschwächen: Die Kommunikation zwischen Ärzten „draußen“ und Ärzten im Spital ist völlig gestört. Sowohl bei der Einweisung als auch bei der Entlassung kommt es zu Doppelgleisigkeiten und Reibungsverlusten – weil jeder sein Schrebergärtlein hegt und pflegt und letztendlich selbst mitverdienen möchte. „Salopp gesagt, weiß die eine Hand oft nicht, was die andere tut, und will es auch gar nicht wissen, weil sie für die Konsequenzen, vor allem in finanzieller Hinsicht, nicht verantwortlich ist“, zeigt sich Ministerin Rauch-Kallat verärgert.
Teure Konkurrenz. Dazu kommt die Konkurrenz der Primarärzte untereinander, das schädliche Wetteifern um die teuersten Großgeräte. Laut Krankenanstalten- und Großgeräteplan bräuchte Österreich bundesweit neun Nierensteinzertrümmerer; existent sind 27. 2001 waren für Österreich 141 Computertomografiegeräte genehmigt – und der Bedarf damit zu mehr als hundert Prozent gedeckt. Trotzdem wurden heuer 14 neue Geräte bewilligt und angekauft. Ebenso wurde heuer die Zahl der Magnetresonanztomografen von 70 auf 76 aufgestockt, mit ministerieller Genehmigung, aber sehr zum Ärger der zahlenden Kassen.
Das System ist fast völlig außer Kontrolle geraten. Bürgermeister, Landesräte, Landeshauptleute rüsten „ihr“ Spital grandios auf – obwohl, wie der Rechnungshof gerne vorführt, nur wenige Kilometer entfernt ein bereits vollwertiges Haus steht. Enorme Überkapazitäten werden geschaffen, nur weil die (Regional-)Politik es so will und eine bundesweite Koordination fehlt. Am Ende des Tages bleiben ein Riesendefizit und verzweifelte Rufe nach einer Generalsanierung – „aber bitte nicht auf meine Kosten“.
Für Hauptverbandssprecher Kandlhofer liegt hier einer der Knackpunkte des Systems insgesamt: dass nämlich die Primarii im Schulterschluss mit Politikern in den Spitälern anschaffen, ohne selbst dafür zahlen zu müssen. „Wir (die Kassen, Anm.) zahlen 45 Prozent im Spitalsbereich, haben aber null Mitsprache“, weist er auf eine grundsätzliche Sollbruchstelle des Systems hin – und scheint hier auch das Ohr der sonst so vorsichtigen Gesundheitsministerin gefunden zu haben. „Wir sind jetzt angesichts des Kostendrucks … an einem Punkt angelangt“, schmetterte Maria Rauch-Kallat bei den Alpbacher Reformgesprächen diesen August mutig in den vollen Saal, „wo kein Platz mehr für Standesdenken, Hausmachtpolitik und Partikularinteressen bleibt.“