Bildung: Studieren Sie Europa
An Österreichs Universitäten herrscht der Ausnahmezustand. Studienplätze sind rar, die Hörsäle überfüllt und die Drop-out-Quoten erschreckend hoch. Wer das Studium stattdessen im Ausland absolviert, kann dem Chaos entgehen.
Hunderte Maturanten campieren vor der Universität, um einen Studienplatz zu ergattern. Tausende versuchen in riesigen Hallen bei einem K.-o.-Test die Aufnahme an die Medizin-Uni zu schaffen. Zigtausende Maturanten und Studenten müssen sich mit einer überforderten Bildungsministerin und dem Kollaps des österreichischen Systems des freien Hochschulzugangs herumschlagen. Müssen sie? Nein, es geht auch anders.
Überfüllte Hörsäle, Gerangel um Studien- und Praktikumsplätze oder die Sorge, in eine Vorlesung hineinzukommen, gibt es hier nicht, erzählt Martin Kotynek-Friedl, der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, der größten Universität Deutschlands, Neurobiologie studiert.
Unter den 48.000 Studenten der Ludwig-Maximilians-Universität ist Kotynek-Friedl ein echter Exote, denn er ist einer der ganz wenigen, die von Österreich nach Deutschland gegangen sind, um dort ihr Studium zu absolvieren. Es gäbe zwar einige, die dem Papier nach Österreicher seien, aber schon nahezu ihr ganzes Leben lang in Deutschland leben, weiß er. Er habe Zeit seines Studiums keinen anderen Österreicher getroffen, der wie er nach der Matura nach München gegangen wäre, um dort zu studieren. Dabei seien die Studienbedingungen im benachbarten Bayern geradezu paradiesisch: In München liegt die Regelstudienzeit bei nur neun Semestern, in Österreich dagegen bei 14 bis 16. Es gibt hier den supermodernen High-Tech-Campus, ein ganz neues Gebäude mit den modernsten und besten Geräten, und durch die Nähe zum Max-Planck-Institut ist man außerdem in ein internationales Forschungsumfeld eingebunden.
Die einzige Voraussetzung, die der Österreicher erfüllen musste, um in Deutschland studieren zu können, war ein gutes Maturazeugnis vorzuweisen. Wie für die Studienfächer Medizin, Pharmazie und Psychologie gibt es nämlich in Deutschland auch für Biologie eine Numerus-clausus-Regelung, nach der in den einzelnen Fächern ein Notendurchschnitt zwischen 1,6 und 2,4 erforderlich ist, um nach der Matura ohne Wartezeit mit dem Studium beginnen zu können. Kotynek-Friedl: Damit war es aber ganz einfach. Ich habe mein Zeugnis bei der ZVS, der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen in Dortmund, vorgelegt, angegeben, wo ich studieren möchte, und meinen Studienplatz erhalten.
Schlecht informiert. Dass man so einfach an einen Studienplatz in Deutschland kommen kann, weiß in Österreich kaum jemand. Weder bei der Österreichischen Hochschülerschaft noch bei den offiziellen Stellen für den Studentenaustausch erhält man die notwendigen Informationen. Wir empfehlen den Studenten, sich selbst vor Ort zu erkundigen. Es gibt ja das Internet, da findet man schon vieles, sagt Susanne Haslinger, Leiterin des ÖH-Referats für internationale Angelegenheiten. Auch Wolfgang Eckert, Leiter der Nationalagentur Sokrates, die den internationalen Studentenaustausch managt, weiß auf die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen man ein Studium zur Gänze in einem EU-Land absolvieren kann, nur: Das ist schwierig. Und teuer.
Eckert verweist stattdessen auf das Austauschprogramm Erasmus, im Rahmen dessen es möglich ist, ein oder zwei Semester im Ausland zu studieren. Jeder, der sich dafür interessiert, kann auch einen Studienplatz im Ausland bekommen, erklärt Eckert. Erasmus-Studenten würden die Studiengebühren in Österreich und an der Gastuniversität im Ausland erlassen, und zusätzlich erhalten sie einen monatlichen Zuschuss von 250 bis 300 Euro, und obwohl jeder Zehnte der rund 40.000 österreichischen Studenten die Möglichkeit nutze, im Rahmen des Erasmus-Programms ins Ausland zu gehen, gäbe es noch genug Plätze. Eckert: Wenn man nur im Ausland studieren möchte, sind die Kosten dagegen nicht absehbar. In Großbritannien gibt es zum Beispiel kein einheitliches Gebührensystem. Die Universitäten verwalten sich selbst, und die Kosten für die Studienplätze können mehrere tausend Euro pro Semester betragen, und Stipendien gibt es keine.
Einfach bewerben. Dass Österreicher, die nicht an einer österreichischen Universität studieren wollen, keine finanzielle Unterstützung erhalten können, stimmt jedoch so nicht. Auf eine österreichische Studienbeihilfe darf man zwar nicht hoffen, die wird nur an jene ausbezahlt, die an einer österreichischen Hochschule studieren, dafür kann man aber im Gastland versuchen, ein Stipendium zu bekommen.
Eigeninitiative ist also gefragt, wenn man im Ausland studieren möchte. Dann ist es aber in vielen Ländern leicht möglich, einen Studienplatz zu bekommen. Wer will, kann dem Gedränge an den österreichischen Universitäten also sehr wohl entgehen. Europas Universitäten stehen den österreichischen Schulabgängern jederzeit offen. Und wer fürchtet, sich das ganze Studium im Ausland finanziell nicht leisten zu können, kann immer noch im Rahmen des Erasmus- oder des Ceepus-Programms ins Ausland gehen. Diese Austauschprogramme sind sehr erfolgreich, erklärt auch Ulrich Hörmann, Generalsekretär des Österreichischen Austauschdienstes ÖAD der Österreichischen Agentur für Internationale Bildungs- und Wissenschaftskooperation, im Rahmen des Erasmus-Programms gehen jährlich über 4000 Österreicher ins Ausland. Im Vergleich dazu kommen aber nur 2800 Studenten nach Österreich. Das relativiere auch die Diskussion um die große Zahl der Ausländer an den heimischen Universitäten. An den Medizin-Unis sei das Verhältnis zuletzt zwar etwas aus dem Gleichgewicht geraten, aber auch dort mache der Anteil der deutschen Studenten nur rund 13 Prozent aus. Die Diskussion verläuft außerdem viel zu einseitig, erklärt Hörmann, wenn man aber die Bereiche Sport, Wirtschaft oder Technik betrachtet, sieht es ganz anders aus.
Von Peter Sempelmann