Warum die Kirchen gebraucht werden

Trotz Missbrauchsfällen, Finanzskandalen und überholten Moralvorstellungen – Österreichs Kirchen wären gefragt, wenn es um Orientierung und die Bewältigung von Krisen geht. Warum werden sie so wenig gehört?

Thema: Management Commentary
Rainer Graf, Mangementberatung Horváth Hamburg

Rainer Graf, Mangementberatung Horváth Hamburg

Die Zahl der Kirchenaustritte in Österreich hat im vergangenen Jahr – mit weit über 90.000 einen neuen Höhepunkt erreicht. Binnen zehn Jahren waren es über 700.000 Menschen, die allein der Katholischen Kirche den Rücken gekehrt haben. Zu den Gründen gibt es viele Erklärversuche, der bekannte heimische Theologe Paul M. Zulehner spricht von einem unglaublichen Gefälle zwischen den Generationen und davon, dass der Glaube für junge Menschen nicht mehr „schicksalshaft“ sei.

Es ist eines dieser typischen Paradoxien: Der Mensch sucht Halt und Vorbild, aber die geeigneten Autoritäten sind verloren. Gott ist tot, aber die Religionen leben. An Alternativen ist kein Mangel, sieht man sich den Zulauf zu Verschwörungszirkeln, Freikirchen, obskuren Sekten und okkulten Glaubensgemeinschaften an. Die einst so mächtigen Weltkirchen in Ost und West haben viel Vertrauen verspielt und suchen jetzt selbst nach Wegen aus der Krise.

Das Paradoxon geht tief: Wenn das Selbstbild vom angeblichen Fremdbild bestimmt ist oder noch schlimmer: wenn die eigene Wahrnehmung nicht mehr klar und sicher scheint, dann sind Menschen wie Organisationen paralysiert. Nichts geht mehr. Dies scheint die aktuelle Situation der christlichen Kirchen zu sein, die nach den vielen Skandalen und aufgedeckten Missbrauchsfällen der Vergangenheit im öffentlichen Diskurs der Gegenwart beinahe nicht mehr existent sind.

Menschen wünschen Orientierung

Es ist eine einfache Regel, die für jede Art von Krisenmanagement, Führungsstärke und Orientierungshilfen gilt. Je höher die Bereitschaft zum Dialog und je klarer die Kommunikation, desto größer die Gefolgschaft. Je einfacher und verständlicher die Botschaften, desto eher steigen Vertrauen und Loyalität. Das war auch die große Stärke und Macht, die den Kirchen einst – egal ob katholisch, evangelisch oder orthodox – zu eigen war, und auch egal in welchem Land.

Und diese vergangene Stärke hallt noch immer nach. Denn wie anders ist es zu interpretieren, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung, egal ob Kirchenmitglied oder nicht, eine stärkere Rolle der Kirche im gesellschaftlichen Diskurs wünscht. Laut einer aktuellen Studie der Managementberatung Horváth wünscht sich jeder zweite Befragte von den christlichen Kirchen in Deutschland ein kräftiges Lebenszeichen bei gesellschaftlichen und politischen Themen. Bei den jüngeren und bei Kirchenmitgliedern sind es sogar über 60 Prozent.

Die Nachkriegsgesellschaft von heute ist Krisen und Konflikte offenbar nicht mehr gewohnt. Dennoch bestimmen sie den Alltag - politisch wie gesellschaftlich. In diesen Zeiten wünschen sich vor allem junge Menschen Orientierung und sehen die Kirchen als wichtige Stimme. Diese Chance könnten die Kirchen aktiver dazu nutzen, an einer Professionalisierung ihrer Kommunikations- und Kampagnenfähigkeit zu arbeiten – insbesondere im direkten Kontakt vor Ort.

Menschen wünschen Nähe

Hauptgrund für die Abwesenheit von Kommunikation und Vertrauen ist die verloren gegangene Nähe der Kirchen zu den Menschen. Das weiß man auch von politischen Parteien und Funktionären – wenn sie nicht ins Haus kommen, dann kennt man sie nicht mehr, und wählt sie kaum. Es ist die Nähe und es sind die Berührungspunkte – neuhochdeutsch die Touchpoints der Customer Journey, die hier vollkommen fehlen, die Anlaufstellen für Rat- und Hilfesuchende, die verloren gegangen sind, nicht zuletzt wegen fehlendem Kirchenpersonal und alternativen Organisationen, die anstelle der Kirchenvertreter/innen eingesprungen sind.

Das belegen zumindest die Zahlen: Unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit oder dem persönlichen Glauben geben über die Hälfte der von Horváth repräsentativ Befragten an, im vergangenen Jahr keinerlei Berührungspunkte zur Kirche gehabt zu haben. Als mögliche Kontaktpunkte wurden unter anderem der Gottesdienstbesuch, Gemeindeveranstaltungen, Seelsorge-Gespräche, Kontakt über Social Media sowie kirchliche Übergangsrituale wie Taufe, Kommunion oder Konfirmation, Hochzeit oder Beerdigung in der Kirche abgefragt.

Über die gängigen Rituale kommen mit 22 Prozent noch die meisten Menschen mit der Kirche in Berührung, einen Gottesdienst haben im vergangenen Jahr nur noch 17 Prozent besucht. Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen sind das stärkste Motiv für eine Beschäftigung mit der Kirche, aber die Erwartungen der Kirchenmitglieder werden häufig nicht mehr erfüllt. Dabei könnte die (noch) bestehende Verbindung durch mehr Service, Kontaktbereitschaft und Nähe wieder gestärkt werden.

Junge offen für neue Angebote

Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass die junge Generation der Kirche gegenüber gar nicht so verschlossen ist wie oft angenommen. Immerhin 13 Prozent der jungen Bevölkerung haben schon einmal Social-Media-Angebote der Kirchen genutzt – im Vergleich zu sechs Prozent im Gesamtdurchschnitt. Es ist daher klar, dass es vor allem Verständnis für die Bedürfnisse der jungen Zielgruppen braucht, um die Grundlagen für einen Neuanfang mit Kirche möglich zu machen.

Und dieser Neuanfang wäre dringend nötig, denn von den etwa 1000 befragten Personen aller Altersgruppen und Regionen Deutschlands sind nur noch 46 Prozent Mitglied einer christlichen Kirche, während die Zahl der Nicht-Religiösen oder keiner Glaubensgemeinschaft Angehörigen mit bald 40 Prozent aus Perspektive der etablierten Kirchen geradezu dramatisch hoch sind. In Österreich waren es laut Statistik Austria im Jahr 2022 immerhin schon rund 22,4 Prozent, die sich keiner Glaubensgemeinschaft mehr zugehörig fühlen.

Fazit: Obwohl die massive Abwendung von den Kirchen im Vorjahr neue Höhen erreicht hat, sollte man nicht voreilige Schlüsse ziehen. Die Religionsgemeinschaften werden mehr denn je gebraucht, sie bieten Halt und Trost, Orientierung und Kompass, wenn es um persönliche, materielle wie immaterielle Schicksalsfragen geht. Aber auch bei aktuellen politisch-gesellschaftlichen Fragen sollten sie sich stärker positionieren, wünscht sich die Mehrheit der Gläubigen und Nichtgläubigen. Diese Chance sollte jetzt wahrgenommen werden.


Für die Horváth-Studie"Kirchen am Scheideweg - Chancen 2023" wurden 1.000 Personen repräsentativ nach Alter, Geschlecht und Region befragt.


DER AUTOR

Rainer Graf ist Principal Public Sector & Health Care bei Horváth Hamburg.

Die Serie "Management Commentary"ist eine Kooperation von trend.at und der Unternehmensberatung Horváth. Die bisher erschienen Beiträge finden Sie zusammengefasst im Thema "Management Commentary".


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