Körpersprachexperte Stefan Verra: "Die Zukunft ist weiblich" [INTERVIEW]

In seinem neuen Buch beschäftigt sich Stefan Verra mit den biologischen und evolutionären Ursachen der Körpersprache und beschreibt ihre weiblichen und männlichen Ausprägungen. Der trend sprach mit ihm über nonverbale Signale in sich verändernden Lebensrealitäten.

Körpersprachexperte Stefan Verra: "Die Zukunft ist weiblich" [INTERVIEW]

trend: In Ihrem Buch "Körpersprache gendert nicht" schreiben Sie, Frauen und Männer unterscheiden sich darin, wie sie an der Supermarktkassa anstehen, ein Telefon halten oder beim Gehen die Arme schwingen. Und dass, gerade weil wir uns in der Körpersprache so unterschiedlich verhalten, wir in unterschiedlichen Situationen anders behandelt werden. Haben nicht genderfluide Mode, ein neuer Umgang mit Männlichkeit – wo lackierte Fingernägel en vogue sind und die Role Models nicht mehr Clint Eastwood oder Bruce Willis heißen, sondern Harry Styles und Lars Eidinger – eine Veränderung beim Lesen von Geschlechterrollen bewirkt?
Stefan Verra: In den aktuellen Maturajahrgängen treten wohl einige Jungs schon mit lackierten Fingernägeln an, diese Generation wächst damit auf, das stimmt. Man darf die Welt aber nicht aus dem Blick der Medien betrachten. Auch nicht durch die sozialen Medien. In den Großstädten trägt vielleicht auch schon der eine oder andere Anwalt schwarze Nägel, in Großzirndorf birgt das immer noch großes Überraschungspotenzial. Selbst in München, wo ich lebe, ist es eine große Ausnahme, dass sich Männer feminin geben, da ist die Dichotomie Mann/Frau klar zu sehen. Grundsätzlich hat sich nichts verändert, der Homo sapiens ist in seinem Verhalten äußerst stabil. Körpersprache ist nicht etwas, was sich gleich schnell verändert wie Technologie oder Modeströmungen. Das bringt uns in ein Dilemma: Im Alltagsleben sollten die geschlechtsspezifischen Signale keine Rolle spielen, und auch im Job sollte egal sein, ob Mann, Frau oder non-binär, da sollte nur die Leistung zählen. Dennoch halten wir an der Mann-Frau-Zweigliederung fest. Das Erste, was wir vom anderen wahrnehmen, ist die Geschlechtszugehörigkeit. Diese eindeutige Geschlechterzuordnung dient vornehmlich einem Zweck: der Reproduktion.

Das Gendersternchen hat also noch nicht viel nach sich gezogen?
Ich unterstütze das sprachliche Gendern voll und ganz. Aber in der Realität ist das meistens nicht viel mehr als ein Feigenblatt. Nach aktuellen Studien bleiben immer noch 80 Prozent der Hausarbeit an den Frauen hängen, der Frauenanteil in Vorständen wird nur langsam höher, und Frauen suchen sich nach wie vor ihren Mann danach aus, ob er Versorgungsleistung übernehmen kann oder nicht. Selbst wenn alles gegendert ist und wir eine Sprache gefunden haben, die allgemein das Geschlecht unsichtbar macht: Ob du vertrauenswürdig bist oder nicht und ob man dich ernst nimmt oder nicht – egal, ob beim Dating, beim Meeting oder beim Bewerbungsgespräch –, hängt von der Wirkung nach außen ab. Wir alle sprechen zwar grundsätzlich die gleiche Körpersprache, doch es gibt Signale, die geschlechtsspezifisch typisch sind, und diese Signale erst geben unseren Worten Bedeutung. Wir verlieben uns auch nicht in die inneren Werte eines potenziellen Partners. Die können helfen, sind aber nie Auslöser, sondern wir verlieben uns in einen Menschen, weil uns seine Körpersprache verspricht, unsere emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen.


"Selbst wenn alles gegendert ist und wir eine Sprache gefunden haben, die das Geschlecht unsichtbar macht: Ob man dich ernst nimmt oder nicht, egal, ob beim Dating oder beim Meeting, hängt von der Wirkung nach außen ab."


Und diese geschlechtsspezifische Ausprägung von Verhaltensweisen ist kein Klischee, sondern hängt mit Gehirnentwicklung und Hormonstruktur zusammen, wie Sie schreiben?
Faktum ist: Bis zur achten Schwangerschaftswoche sind wir alle weiblich, dann ändert sich die Hormonstruktur. Männer bekommen einen Testosteron-Shot, es ist bis zu 500 Prozent mehr im männlichen Körper als im weiblichen. Das senkt die Hemmschwelle. Männer sind grosso modo risikofreudiger, können sich besser behaupten, vermitteln Sicherheit. Männliches Verhalten ist geprägt vom Immergewinnen-Wollen und von Konkurrenzkampf, was automatisch Auswirkungen auf das Sozialverhalten hat – privat und beruflich. Die meiste Gewalt geht weltweit immer noch von Männern aus.

Da kann auch genderneutrale Erziehung nicht applanieren?
Das ist mit wissenschaftlichen Studien belegt. Die Frau hat bereits ab der achten Schwangerschaftswoche besser entwickelte Empathiezentren. Östrogen, Progesteron und Östradiol beeinflussen das weibliche Verhalten. Frauen sind meist talentierter, sich mitzuteilen, sich mitfühlend zu verhalten, Kompromisse herbeizuführen und Harmonie herzustellen: Frauen lächeln mehr, zeigen mehr mimische Signale und halten deutlich öfter und stabiler Blickkontakt. Bei Frauen ist der Zusammenhalt in jeder Lebenssituation bestimmend und sorgt für belastbare Sozialkontakte. Und damit hat die Frau einen Vorteil. Sie kann unglaublich schnell Bindungen und Netzwerke eingehen. Der Nachteil ist, dass das nicht so durchsetzungsfähig wirkt wie die männlichen Signale.

In einer Welt, die sich dahin entwickelt, dass wir nicht mehr so hart körperlich arbeiten, wird die Zukunft also weiblich?
Vieles, wobei der Mann in der Vergangenheit unersetzbar war, wird von der Gesellschaft so nicht mehr gebraucht. Lebensrealitäten ändern sich. Körperliche Kraft und Aktivität werden zukünftig eine noch geringere Rolle für das menschliche Verhalten und Überleben spielen, als sie das jetzt schon tun. In vernetzten Gesellschaften und Arbeitswelten zählen kommunikative Fähigkeiten und die Bereitschaft zu Kooperation und Teambildung. Hier scheinen Frauen die besseren Voraussetzungen zu haben. Deswegen ist die Zukunft aus meiner Sicht weiblich, weil die Bindungs- und Kommunikationssignale deutlich wichtiger werden, weil wir in einer Netzwerkgesellschaft leben und nicht mehr in einer Gesellschaft, die durch körperliche Bedrohung gekennzeichnet ist. Dass der Mann, dessen Gehirnstruktur und hormoneller Zustand nach Risiko und Krafteinsatz schreien, das kanalisieren muss, zeigt sich unter anderem auch an der Wahl immer absurderer Risikosportarten.

Unser Denken ist sichtlich viel flexibler als unser Verhalten...
Der Feminismus täte gut daran, sich mit dem Verhalten zu beschäftigen; nicht alles, was mit Körpersprache zu tun hat, ist oberflächlich. Oberflächlich ist, sich nur damit zu beschäftigen, ob auf jedem WC das richtige Diversity-Schild ist. Ich bin dafür, dass die Sprache das Geschlecht verschwinden lässt, aber ich weiß genau, allein dadurch wird sich nichts ändern. Vielmehr sollten wir unsere körpersprachliche Vielfalt nutzen und vom anderen Geschlecht lernen.

Männer beispielsweise beim Manspreading im öffentlichen Raum Es ist tatsächlich eine Eigenart, die zum überwiegenden Teil den Männern zugeschrieben werden kann. Aber machen sie das absichtlich?
Zumindest die allermeisten nicht. So wie sich Frauen in den meisten Fällen nicht absichtlich durchs Haar fahren und die Beine übereinanderschlagen. Das männliche Becken ist einfach anders gebaut als das weibliche. Da fallen die Knie im Sitzen leichter zu den Seiten nach außen, weil die Hüftgelenke enger beieinander liegen. Ein Unterschied im Quadrizepswinkel ist die Ursache. Das macht die Wirkung dieser Haltung aber nicht sympathischer. Denn das Manspreading offenbart auch eine Verdrängungswirkung, ein sichtbarer Territorialanspruch, den nicht nur Männer, sondern auch Primaten so zeigen. Das ist kein Freibrief, sondern eine Erklärung. Da braucht es einfach Bewusstseinsmachung.

HALTUNGSFRAGEN. Frauen halten, anders als Männer, ihre Ellbogen beim Gehen enger am Rumpf. Zudem schwingen die Arme so, dass die Handflächen leicht nach vorne zeigen (letztes Bild). Verra: "Wer im ersten Moment sympathisch und kommunikativ ankommen will, macht es wie die Frau und achtet darauf, den Abstand zwischen Ellbogen und Rumpf enger zu halten."

Haben sich im Rahmen der Signalsetzung die Schönheitsideale verändert? Viele Frauen verzichten heute auf High Heels...
Im Gegenteil. Der Unterschied ist größer geworden. Gerade bei den Weiblichkeitssignalen. Der Drang bei der Partnersuche, die Schönste zu sein, um die geworben wird, setzt Frauen unter Stress. Man braucht dazu nur die aktuellen Instagramkanäle scannen. Lange Nägel und aufgespritzte Lippen waren noch nie so populär. Die Unterschiede werden auch deswegen größer, weil wir uns das erste Mal in der Menschheitsgeschichte leisten können, die sexuellen Signale zu zeigen, weil es auch die Arbeitswelt ermöglicht. Wir haben die Freiheit, uns so zu zeigen, wie wir wahrgenommen werden wollen, und die Statistik belegen eindeutig, die Frauen betonen immer mehr ihre Weiblichkeit und die Männer immer mehr ihre Männlichkeit, Stichwort körperbetonende Slim-Fit-Anzüge. Der Wunsch nach "nonbinärer" Einordnung widerspricht offensichtlich dem Wunsch, als das Geschlecht wahrgenommen zu werden, als das wir wahrgenommen werden wollen. High Heels sind ja in erster Linie dazu da, die Körperhaltung zu verändern: Sie machen größer, vor allem aber machen sie notwendig, dass die Frau ein Hohlkreuz bildet, das unterstreicht die weiblichen Formen. Gut im Club, weniger im Meeting, wo ein anderes Versprechen gegeben werden muss, nämlich jenes nach Zielstrebigkeit oder Stabilität. Da werden Frauen dann oft anders bewertet, als sie es wollten. Und das hat nichts mit Sexismus zu tun, sondern mit der Körpersprache. Missverständnisse oder Benachteiligungen entstehen oft, weil wir unsere Körpersprache unzureichend dosieren oder ihre Signale im falschen Kontext einsetzen. Wir möchten Kompetenz ausstrahlen, werden jedoch als arrogant wahrgenommen.

Das heißt, man sollte seine Persönlichkeit so gestalten, dass man, unabhängig vom Geschlecht, besser ankommt?
Man soll sich natürlich davon nicht einschränken lassen, aber man darf nicht erwarten, dass die Wirkung, die man erzielt, allgemeingültig positiv ist. Körpersprache ist die Sprache der Gefühle, und zwar der Gefühle, die wir in anderen auslösen. Die Wirkung liegt im Auge des Betrachters. Viel zu viele Personalentscheider lassen sich leider durch das blenden, was die Leute in ihre Bewerbung reinschreiben: Ich bin teamfähig, enthusiastisch und begeisterungsfähig, steht dann da. Und zum Gespräch kommt ein Mensch mit hängenden Schultern ohne Körperspannung. Ob jemand begeisterungsfähig ist oder nicht, geht nicht nach der Selbsteinschätzung, das entscheidet das Gegenüber. Ich rate immer dazu, die Körpersprache des Menschen zu checken, wie schnell sich jemand bewegt, wie aufmerksam der Blickkontakt ist, wie flink er auf unerwartete Situationen reagiert. Mit meinem Buch will ich den Menschen Macht geben, zeigen, dass man vieles selbst in der Hand hat. Man kann nicht darauf warten, bis sich die Gesellschaft verändert. Besser ist es, über die entsprechenden Signale nach außen, also die Körpersprache, Bescheid zu wissen und diese bewusst einzusetzen. Wer nämlich weiß, welche Signale er aussendet und wie bestimmte Gesten und Mimiken von anderen zu deuten sind, wird selbstsicherer durch den Alltag gehen.


Drei Tipps für sympathische Wirkung


  • Reagiere flink auf und in Kommunikation mit anderen. Wer zu langsam auf andere Menschen reagiert, wirkt immer uneuphorisch.
  • Lächle mehr. Ein wichtiges Signal, um Lebensfreude zu zeigen.
  • Arbeite mehr mit den Augenbrauen!

Zur Person

Stefan Verra, 50.

Der in München lebende Österreicher ist einer der gefragtesten Körperspracheexperten in Europa und berät Organisationen wie die NATO, das Fraunhofer Institut sowie Mediziner:innen und Jurist:innen.

Dass Erfolg weit mehr mit gezielter Mimik und Gestik zu tun hat, als wir denken, hat Stefan Verra bereits in seinem Buch über die "Körpersprache der Mächtigen" erklärt. Vor dem Hintergrund der Diskussion ums sprachliche Gendern beschäftigt sich der Experte in seinem neuen Buch mit geschlechtsspezifischen Signalen der Körpersprache und analysiert darin, wie stark sie Beruf und Beziehung beeinflussen und wie man typische Signale eines anderen Geschlechts zum eigenen Vorteil einsetzen kann.

Verra ist derzeit mit einer Bühnenshow in Deutschland und Österreich unterwegs. stefanverra.com


Das Interview ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 7.4.2023 entnommen.

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