Globalisierung… und was wir glauben, darüber zu wissen
Wer die Medien aufmerksam verfolgt, wird feststellen, dass es schon seit längerem einen regelrechten Hype um das Thema der Globalisierung gibt.
Phillip Nell - Professor am Institut für International Business, WU Wien
Egal ob Trump, Brexit, oder Macron - die Diskussion wird ständig neu befeuert, ob die Globalisierung nun zu weit gegangen ist oder noch nicht weit genug und ob die Politik sich jetzt in die eine oder andere Richtung bewegt. Besonders anschaulich sind die Grabenkämpfe derzeit innerhalb der konservativen Partei im Vereinigten Königreich.
Was jedoch Befürworter und Gegner der Globalisierung gleichermaßen eint, ist zu glauben, dass Sie genau wüssten, wie es um die Globalisierung steht. Dabei leiden die Meisten von uns jedoch unter Fehleinschätzungen.
Diese Fehleinschätzungen entstehen unter anderem, weil nur bestimmte Nachrichten und Informationen in die Presse und die Medien kommen. So sind Medien (auch gerade social media) zum Beispiel tendenziell offener gegenüber Themen, die LeserInnen emotional berühren.
Ein Artikel über ein Erdbeben in Pakistan ist also deutlich schneller in den Medien und deutlicher präsenter, als ein Artikel darüber, dass Pakistan in der Korruptionsbekämpfung ein klein wenig besser geworden ist. Auch haben wir Menschen ein Problem damit, langsame und stetige Entwicklungen wahrzunehmen, da größere Schritte und Brüche all unsere Aufmerksamkeit verlangen.
Daher ist es aus unserer Sicht immer wieder notwendig, ein paar nüchterne Fakten zu betrachten. Wir haben das getan und sind auf zwei Fehleinschätzungen gestoßen, denen viele von uns auflaufen: Fehleinschätzungen, die den Grad der Globalisierung betreffen als auch den Entwicklungsstand von Schwellenländern.
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Fehleinschätzung 1
Wir empfinden die Globalisierung als weiter fortgeschritten, als sie tatsächlich ist.
Die langjährige Forschung von Professor Pankaj Ghemawat zeigt, dass viele Indikatoren der globalen Integration für uns oft überraschend niedrige Werte aufweisen. Deshalb wird in Fachkreisen auch eher von einem Zustand der „Semiglobalisierung“ gesprochen.
Natürlich haben grenzüberschreitende Interaktionen und Verbindungen, wie zum Beispiel Personen-, Informations-, Kapital-, und Handelsströme, in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Aber nur drei Prozent aller Menschen leben außerhalb ihres Geburtslandes, nur 13 Prozent der weltweit größten Firmen (Fortune Global 500) werden von ausländischen CEOs geleitet und nur zwei Prozent aller Studierenden weltweit sind an einer ausländischen Universität eingeschrieben. Selbst auf Facebook sind nur 16 Prozent unserer Freunde international und ausländische Direktinvestitionen machen im Schnitt nur 7 Prozent aller Bruttoinvestitionen aus.
Diese Beispiele zeigen, dass der internationale Anteil grenzüberschreitender Interaktionen oft recht gering ist. Was aber noch wichtiger ist: Wir tendieren anscheinend dazu, diesen Anteil häufig und substanziell zu überschätzen, was Ghemawat anhand von Daten von tausenden Studierenden nachweisen.
Ein ähnliches Ergebnis zeigte sich bei einer öffentlichen Vorlesung an der WU letztes Jahr, in der mehr als 80 Prozent der ca. 500 Teilnehmer den internationalen Anteil aller Studierenden und aller CEOs der weltweit größten Firmen überschätzten. Natürlich sind manche Länder oder Bevölkerungsschichten „globalisierter“ als andere, und in manchen Produktgruppen (zum Beispiel Bananen) dominieren grenzüberschreitende Transaktionen, aber auf die ganze Welt bezogen, scheint die Globalisierung nicht so weit vorangekommen sein wie wir oft annehmen.
Fehleinschätzung 2
Wir glauben, Schwellenländer sind weniger stark entwickelt, als sie tatsächlich sind
Obwohl die Meisten von uns glauben, dass die Welt sehr globalisiert ist, unterschätzen wir den Entwicklungsstand von Schwellenländern teils deutlich. Das hat sicherlich mit dem eingangs erwähnten Mechanismus zu tun, dass z. B. Pakistan relativ wenig mit positiven und graduelle Entwicklungen beschreibenden Nachrichten in den Medien auftaucht.
In einem WU-Projekt mit Studierenden des CEMS Master in International Management Programms und mit Unterstützung der schwedischen Nichtregierungsorganisation „Gapminder“ befragten wir Studierende der WU, der Technischen Universität Wien und des Juridikums über den Entwicklungsstand verschiedener Schwellenländer, wie beispielsweise Pakistan, Brasilien und Indien.
Die knapp 1.200 Antworten zeigten, dass die Studierenden nicht nur oft falsch lagen (der Prozentsatz der korrekten Antworten lag bei ca. 15 Prozent für elf Fragen), sondern dass sie den Entwicklungsstand meist massiv unterschätzten.
So unterschätzten die Befragten die Lebenserwartung in Bangladesch mit nur 60 Jahren (tatsächlich ca. 72 Jahre), die Mobilfunknetzabdeckung in Nigeria mit nur 83 Prozent (tatsächlich ca. 99 Prozent) und den Anteil des Dienstleistungssektors (ein Gradmesser für den Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft) am Bruttoinlandprodukt in Brasilien mit 44 Prozent (tatsächlich ca. 71 Prozent).
Die Schlussfolgerung
Wir glauben, dass solch eine verzerrte Wahrnehmung der Globalisierung das Risiko von Fehlentscheidungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft erhöhen. Wir haben natürlich nur ein paar Beispiele beschrieben beziehungsweise mit Studienergebnissen hinterlegt. Es lohnt sich daher, öfter mal einen Blick auf nüchterne Fakten zu lenken.
Zum Autor
Phillip Nell ist Professor am Institut für International Business und Akademischer Leiter des Executive MBA Bucharest der WU Executive Academy. Darüber hinaus leitet er das Kompetenzzentrum für Emerging Markets & CEE an der WU Wien. Er forscht vorwiegend über globale Strategien und Beziehungen zwischen Unternehmenszentralen und deren Tochtergesellschaften.
Der Beitrag entstand in Zusammenarbeit mit den PhD-Studenten Jan Schmitt und Benoit Decreton, die am Institut für International Business der Wirtschaftsuniversität Wien forschen.