„Die Optimierungswut ist der Untergang aller Innovationen“

Langfristige Strategie? Vision 2030? Sinnlos, sagt der Wirtschaftsjournalist und Buchautor Wolf Lotter. Das richtige Rezept für die Zukunft ist es, sich bewusst zu machen, was man alles weiß und kann – und dieses Wissen auch zu nutzen. Das ist eine der zentralen Thesen aus seinem jetzt erschienenen Buch „Zusammenhänge – Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“.

Wolf Lotter

Wolf Lotter

trend: Es ist im Moment schon eine Herausforderung, die nächste Woche zu planen. Wie können wir da die Zukunft gestalten?
Wolf Lotter: Vergessen sie „Zukunft gestalten“, das ist ohnehin eine Illusion. Alle diese Unternehmens-Visionen sind meistens leere Kilometer. Wir befinden uns mitten in einer Transformation, die wir mit den alten Rezepten der Industriegesellschaft bewältigen wollen, das kann nicht funktionieren.

Was brauchen wir stattdessen?
Der damalige Siemens-Chef Heinrich von Pierer hat einmal gesagt: „Wenn Siemens wüsste, was es weiß.“ Das ist für mich ein Schlüsselsatz. In den Menschen, in den Unternehmen steckt soviel Wissen, dass wir nicht nutzen. Das Wissen ist zwar in der Organisation, aber es teilt sich nicht mehr mit. Diese fehlende „Kontextkompetenz“, wie ich das nenne, ist eine der größten Bedrohungen von Unternehmen geworden. Und zudem haben wir stets versucht, das Wissen zu reduzieren auf Eindeutigkeiten. Aber die Welt ist nicht eindeutig, sie ist vielfältig und mehrdeutig. Und wir müssen lernen, damit umzugehen.

Aber wenn ich an einer Weggabelung stehe, muss ich mich für rechts oder links entscheiden. Die Einsicht, dass Wege mehrdeutig sind, hilft da wenig…
Natürlich sollen sie entscheiden. Aber sie dürfen den eingeschlagenen Weg nicht mit Scheuklappen gehen, sondern immer wieder links und rechts schauen, ob es dort neue Möglichkeiten oder Varianten gibt.


Aus getroffenen Entscheidungen immer wieder etwas Neues machen.

Und was sehe ich dort?
Wenn sie aufmerksam und überraschungsfähig sind, entdecken sie dort neues Wissen. Columbus wollte Indien entdecken, ist aber in Amerika gelandet. Er hätte jetzt verzweifeln können, weil er sein Ziel ganz offensichtlich nicht erreicht hat. Stattdessen war er offen und neugierig und hat halt Amerika entdeckt. Es kommt eben gerade darauf an, aus den getroffenen Entscheidungen immer wieder etwas Neues zu machen.

Wie lässt sich diese Vielfalt und Mehrdeutigkeit managen? Was bedeutet in einem solchen Umfeld Führung?
Ich würde Management grundsätzlich nicht überbewerten. Wenn man sich heute Unternehmen anschaut, gibt es ein offizielles, aufgezeichnet Organigramm – und daneben gibt es inoffizielle Abläufe und informelle Hierarchien, ohne die der Laden gar nicht funktionieren würde. Was gute Führungskräfte tun sollten: Dafür sorgen, dass das im Unternehmen vorhandene Wissen auch genutzt wird, also angewendet wird. Denn Wissen nützt nur dann etwas, wenn daraus etwas entsteht, neue Produkte, neue Märkte, mehr Wohlstand…

Wie kann das gelingen?
Der zentrale Begriff ist Kontextkompetenz. Dazu gehört, den Software-Entwickler mit dem späteren Anwender, den Produktentwickler mit dem Kundenbetreuer zusammenzubringen. Und zwar in einem Rahmen, in dem eine echter Wissensaustausch stattfinden kann. Also Fragen gestellt werden dürfen und diese auch gehört und ernstgenommen werden. Denn jede Entwicklung beruht auf dem kritischen Hinterfragen von Dingen. Dazu muss aber das Silo-Denken in Organisationen überwunden werden und die Experten müssen wieder zurückgeholt werden in den Wissensaustausch. Das wird die Aufgabe von Managern in der Wissensgesellschaft sein. Was sie nicht tun dürfen: Optimieren und Abläufe straffen. Denn die Optimierungswut, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ist der Untergang aller Innovationen.


Man muss dorthin gehen, wo man lernen kann – und nicht dorthin, wo man bestätigt wird.

Was bedeutet das für den Einzelnen?
Das Viele darf uns nicht zu viel sein, das ist die Herausforderung. Kontextkompetenz entsteht genau dort, wo wir uns dem Unbekannten zuwenden, nicht dem Vertrauten. Dorthin zu gehen, wo man lernen kann – und nicht dorthin, wo man bestätigt wird. Ja, das ist unbequem, aber nur das bringt uns weiter.

Welche Rolle wird die Digitalisierung dabei spielen?
Nicht wir folgen der Künstlichen Intelligenz, sondern wir werden den Maschinen sagen, was wir brauchen. Wenn dieses Meister-Diener-Verhältnis geklärt ist – was es bisher nicht ist -, kann die Digitalisierung dem Menschen viel Freiraum bringen und auch eine größere Unabhängigkeit bringen. Das wäre ein großer Schritt der Wissensgesellschaft in Richtung Zivilkapitalismus, wie ich das nenne: Mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, zu erkennen, was sie können. Und aus diesem Wissen eine sinnvolle Bedienungsanleitung für das eigene Leben zu machen.


Zur Person

Wolf Lotter ist ein deutsch-österreichischer Journalist und Autor. Er ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins „brand eins“ und hat mehrere Bücher zu Themen wie Innovation und der Weiterentwicklung der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft geschrieben.

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